Rezension

Ein Schweigen, das schreit vor Sehnsucht

Kleine Monster -

Kleine Monster
von Jessica Lind

Pia und Jakob werden wegen ihres Sohnes zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Ihr Sohn Luca soll etwas mit einem Mädchen gemacht haben, als er mit ihr allein war. Die Eltern versuchen, Lucas Version der Geschichte von ihm zu erfahren. Er schweigt. Pia und Jakob werden aus dem Elternchat der Klasse entfernt. Mit dem Vorfall beginnt Pia, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass das Verhalten von Kindern widersprüchlich sein kann.

Ihr kommt eine Vorahnung, die in ihrem eigenen Trauma und das ihrer Herkunftsfamilie begründet liegt. Ihre kleine Schwester Linda ist bei einem Unfall oder dessen Folgen gestorben. Pias Eltern schweigen darüber.

Lindas Tod hinterlässt viele Fragen um die Todesursache, die ambivalente Beziehung zu ihrer Adoptivschwester Romi und deren Rolle bei Lindas Tod. Es baut sich ein Gedankenstrudelstrudel um Pia auf, der ihren Mann, ihren Sohn und ihre Eltern immer weiter mit hineinzieht. Vor diesem Hintergrund wird Pia gegenüber Luca immer misstrauischer.

Der Roman thematisiert keine einfachen Themen: Trauer, Ungewissheit, Schuld, Widersprüchlichkeit von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, unverständliches Verhalten von Kindern und Trauma Verarbeitung. Es zeigt sich, wie Schweigen über etwas Unbegreifliches im Inneren eines Menschen weiterarbeitet und zerstörerisch wirkt. Sogar in den Abgrund ziehen kann. Es geht um die Illusion einer heilen Kindheit. Ein Verlust, der ein Leben begleitet und aus dem sich ein Verdacht aufbaut. Man spürt deutlich das Misstrauen, dass sich wie ein dunkler und nicht greifbarer Faden durch die Geschichte zieht.

Als Lesende:r muss man aushalten, dass es keine eindeutigen Antworten auf alle Fragen gibt. Manchmal gibt es keine Antworten. Vieles bleibt ungesagt, wie im richtigen Leben. Es ist meisterlich, wie die Autorin ein psychologisches Drama entwirft. Nichts ist schwarz oder weiß in dieser Geschichte. Sie erarbeitet die Gedanken oder vielmehr das Gedankenkarussell der Familie, dass einem der Atem stehen bleibt.

Da ist Luca, der erstmal schweigt. Pia, die als Kind ihre beiden Schwestern über alles geliebt hat. Sie verzeiht lange Romis unerklärliche Verhaltensweisen. Pias Schwester Romi ist ein Adoptivkind aus einem Heim. Auch sie will als Kind Fragen beantwortet haben: Ob man sie bedingungslos liebt und ob sie sich der Liebe und Aufmerksamkeit der Mutter sicher sein kann.

Das Ungesagte und das Schweigen um Lindas Tod und Romis damaliges Verhalten holt Pia durch Luca und der Zwischenfall in der Schule wieder ein. Man fragt sich beim Lesen des Romans: Was passiert gerade mit Luca und was mit Pia? Was ist wirklich mit Linda passiert? Was hat Romi getan und was Luca? Oder was haben sie nicht getan?

Pias Mutter wollte einem Kind ohne Familie eine Chance geben. Nach Lindas Tod ändert sich ihr Verhalten und ihre Einstellung gegenüber Romi. Sie sieht in ihr das Dunkle, genauso wie Pia später in Luca. Pias Vater, der seinen Anteil daran sieht, dass er gearbeitet hat, die Kinder ein Dach über dem Kopf hatten, etwas zum Anziehen, zum Essen und Spielzeug. Und Pias Mann Jakob, der in der Situation mit Luca scheinbar ruhig und umsichtig reagiert. Aber auch er ist nicht ganz gefeit, von der subtilen Illusion seiner heilen Kindheit.

Der Roman ist gefühlvoll und poetisch geschrieben, direkt aus dem Leben und dem Alltag mit Kindern. Die Reflektiertheit mit der sich Pia gegen Ende der Geschichte entwickelt, hat mir gefallen. Dennoch gibt es nicht die einzige Wahrheit auf die Fragen in der Geschichte. Vieles bleibt offen und ungeklärt. Trotzdem ist die Geschichte für mich rund. Unbedingte Lesempfehlung!