Rezension

Bewegende Geschichte (Hörbuchrezension)

Ein ganzes halbes Jahr. Geschenkausgabe - Jojo Moyes

Ein ganzes halbes Jahr. Geschenkausgabe
von Jojo Moyes

Bewertet mit 4 Sternen

Gestaltung
Das Hörbuch wird von mehreren Sprechern gelesen. Leider war mir nicht ganz klar, wer welchen Charakter interpretiert hat. Und da ich keine falschen Thesen in den Raum stellen möchte, betone ich jetzt einfach mal, dass mir die Sprecherin, die den Louisa-Handlungsstrang gelesen hat, am besten gefallen hat. Sie konnte die Entwicklung der Protagonistin wirklich gut darstellen. Besonders gefielen mir die Dialoge, die sie mit ihrem Arbeitgeber Will hat. 

Leider haben mir die anderen Sprecher nicht so gut gefallen. Gerade die männlichen Rollen fand ich tendenziell schlecht besetzt. Entweder konnte ich mit der Stimmfarbe nichts anfangen oder mir fehlten die Emotionen bei den Lesungen ihrer Parts. Allerdings störte das meinen Lesefluss (Hörfluss in dem Zusammenhang wäre vielleicht korrekter, klingt aber auch ziemlich schräg) nicht groß, da der Hauptteil der Geschichte aus Louisas Sicht erzählt wurde.

Inhalt 
Jojo Moyes schuf hier zwei spannende Charaktere: Wir haben Louisa, die körperlich alle Möglichkeiten zur Verfügung hat, hinaus in die Welt zu gehen. Dennoch ist sie innerlich gehemmt. Dann haben wir Will, der früher um die Welt reiste und nun durch einen Unfall zum Tetraplegiker wurde, also in seiner Bewegung eingeschränkt ist und das Haus nur noch selten verlässt. Er hält es kaum aus, wie passiv Louisa ist. Und nun stellt sich die Frage: Wie schaffen es die beiden, einen gemeinsamen Alltag zu leben, ohne sich gegenseitig für ihre unterschiedliche Lebensvorstellungen zu hassen?

Jojo Moyes spricht in Ein ganzes halbes Jahr viele Themen an: Zum einen geht es um die Frage, wie man mit seiner Behinderung umgeht oder auch von seiner Umgebung wahrgenommen wird. So stellt sich Protagonistin Louisa eine Menge Fragen bzw. stellt Vermutungen auf, die sich viele Menschen, die keinen Umgang mit Menschen mit Behinderungen haben, sicher auch schon gestellt haben. Ich finde es sehr gut, dass Jojo Moyes diese Fragen durch Louisa aufgreift, weil sich einige Leser so verstanden fühlen und merken, dass es auch andere Leute gibt, die sich dieselben oder ähnliche Fragen stellen. Schließlich haben viele Leute Berührungsängste gegenüber Behinderten und wissen nicht, mit welchen Fragen sie jetzt ins Fettnäpfchen springen und welche Fragen sie gefahrenlos stellen dürfen. 

Das zweite Thema: Das Ich-weiß-was-gut-für-dich-ist-Ding, das viele Menschen mit Behinderung mit Sicherheit auch kennen. Und dieser Aspekt wird hier aus zwei Perspektiven dargestellt: Zum einen erleben wir Louisa und die Gedanken, die hinter dem Ich-will-Gutes-tun-Vorhaben stecken. Und zum anderen lernen wir durch Will wie Louisas Aktionen bei ihm ankommen. Das Tolle ist, dass hier beide Aspekte miteinander verbunden werden und es so nicht bei einer einseitigen Darstellung bleibt. Der Leser hat also die Möglichkeit beide Perspektiven kennenzulernen. Allerdings wurde dieser Handlungsstrang nicht konsequent zu Ende gedacht. Immer wieder geraten will und Louisa deswegen aneinander: Will, der sich beschwert, dass man ihm seine Selbstbestimmung wegnehme und dies auch mit sehr schlüssigen Argumenten belegt. Und Louisa, die es unbewusst weiterhin tut. Und gerade als es auf das Finale der Geschichte zuging, wunderte es mich, dass Will diesen Aspekt nicht nochmal thematisiert hat.

Das letzte - und vermutlich wichtigste - Thema ist die Frage nach einem lebenswerten Leben. Auf diesen Aspekt werde ich in Kürze in einem weiteren Blogartikel wahrscheinlich noch ausführlicher eingehen. Toll fand ich in dem Buch, dass beide Aspekte dieses Themas beleuchtet wurden. Zum einen wurden Tetraplegiker gezeigt, die ihr Leben sehr wohl als lebenswert empfinden, egal mit welchen Problemen sie tagtäglich zu tun haben. Und auf der anderen Seite stand Will, dem sein Leben nicht genügt. Auch hier gibt es keine einseitige Darstellung. Leider kann ich argumentativ nicht weiter darauf eingehen, weil ich sonst zu viel vom Inhalt vorwegnehmen müsste. Ich werde euch den geplanten Beitrag an dieser Stelle aber verlinken, sobald er veröffentlicht wurde.

Spannung
Lange war mir der Spannungsbogen der Geschichte nicht klar. Es dauerte ein bisschen bis Louisa im Hause Traynor ankommt. Und als die Rollen klar verteilt wurden, war ich mir unsicher, wohin sich die Geschichte entwickeln würde. Und dann kam die Stelle, an der die Handlung kippte und alles über den Haufen geworfen wurde. Das Ende hat mir sehr gut gefallen, weil es aus der Sicht der Handlung realistisch ist. Jojo Moyes sorgt auch dafür, dass es hier keine Verallgemeinerungen gibt.

Schreibstil
Jojo Moyes hat einen lebendigen und flüssigen Schreibstil. Ich hatte keine Mühe, in die Geschichte einzutauchen. Wie bereits angedeutet, wird Ein ganzes halbes Jahr aus mehreren Perspektiven erzählt. Im Vordergrund steht allerdings Louisas Perspektive. Immer wieder gibt es aber auch Passagen aus der Sicht von Wills Familienmitgliedern oder einem Pfleger von Will. Leider hat sich Jojo Moyes an eine wesentliche und beinahe offensichtliche Perspektive nicht herangetraut. Dasfand ich etwas schade.

Außerdem erzählt Jojo Moyes viel zwischen den Zeilen: Vor allem in Bezug auf die Beziehungen der Charaktere untereinander. Hier beschreibt sie sehr viel und lässt den Leser selbst entdecken und kombinieren, was Sache ist. Das fand ich sehr angenehm, weil ich als Leserin durchaus die Möglichkeit hatte, die richtigen Schlüsse ziehen zu können, mir aber nichts vorgekaut wurde.

Gesamteindruck
Ich bin schon lange um Ein ganzes halbes Jahr herumgeschlichen. Ich wusste nicht viel über die Geschichte, sondern nur, dass es irgendwie um Behinderung ging. Durch die Schülerzeitung meiner alten Schule bin ich an viele Buchtipps in der Richtung geraten und ein Klischee jagte das andere. Daher hatte ich Angst, dass es mir hier ähnlich gehen würde.

An einigen Stellen bekommt die Geschichte einen kleinen Touch von dem Film Ziemlich beste Freunde. Glücklicherweise gingen diese Szenen auch schnell vorüber und wurden durch eigene Elemente der Geschichte aufgefangen. Durch die Steigerung des Spannungsaufbaus wurde ich überrascht und hätte nicht gedacht, dass sich das Buch in diese Richtung entwickelt. Das Ende ist allerdings kritisch zu betrachten.
Hier und da bewegt sich Jojo Moyes auf sehr dünnem Eis, schafft es aber, durch das Aufzeigen verschiedener Perspektiven sich wieder auf die sichere Seite zu bewegen.

Wer sich für die Welt von Tetraplegikern interessiert oder sich einmal mit behinderungsspezifischen Themen auseinandersetzen möchte, ohne gleich ein Sachbuch befragen zu müssen, dem kann ich Ein ganzes halbes Jahr wärmstens empfehlen.