Rezension

Die Zeit ist reif, das Leben (oder das Schicksal?) zu akzeptieren

Schicksal -

Schicksal
von Zeruya Shalev

Bewertet mit 5 Sternen

Die Zeit ist reif, das Leben (oder das Schicksal?) zu akzeptieren, denn die Zeit wartet nicht. So oder so ähnlich könnte die Quintessenz des beeindruckenden Romans „Schicksal“ von Zeruya Shalev, die selbst nur knapp einen Terroranschlag überlebte, lauten. Dieser israelische Roman setzt vielleicht auch deshalb ganz andere Schwerpunkte als die sonst in Deutschland publizierten. Gewöhnlich steht eher der Konflikt zwischen Juden und Arabern im Vordergrund. Hier wird, wenn überhaupt, die Auseinandersetzung mit den Briten in den Anfängen des Staates Israel fokussiert. Gleichzeitig lernt man aber auch viel über das moderne Israel. Im Mittelpunkt stehen individuelle Schicksale, die nur bedingt mit dem historisch-gesellschaftlichen Rahmen verbunden werden, und die sich ausgiebig mit Schuldfragen beschäftigen.

Die Autorin verbindet in ihrem Roman die Schicksale von Atara und Rachel, aus deren personaler Perspektive der Roman abwechselnd erzählt wird. Hierbei geht die Autorin nicht linear vor, sondern bedient sich vieler Rückblenden und Reflexionen, die den Text anspruchsvoll gestalten.
Die scheinbar einzige Verbindung der beiden Frauen ist Meno, der in seiner Jugend in erster Ehe mit Rachel verheiratet war und aus dessen zweiter Ehe Atara als Tochter hervorgegangen ist.
Rachel ist inzwischen über neunzig Jahre alt und war damals, noch vor der offiziellen Staatsgründung Israels, in der Untergrundorganisation Lechi aktiv, die gegen die britischen Besatzer kämpfte. In diesem Kontext lernte sie Meno kennen. Sie verband eine starke Liebe, die jedoch eines Tages abrupt endete, als sie einer jungen Frau einen versehentlich bei ihnen gelandeten Brief überbrachten, der die junge Frau in einen Bus steigen ließ, in dem sie aufgrund eines arabischen Terroranschlags zu Tode kam. Unerwartet und erklärungslos, aber voller Schuldgefühle verließ Meno Rachel daraufhin für immer. Beide gründeten später eigene Familien, in denen ihre erste Ehe totgeschwiegen wurde.
Atara, Menos inzwischen etwa fünfzigjährige Tochter aus zweiter Ehe, die nach der damals beim Attentat verstorbenen jungen Frau benannt wurde, trägt ebenfalls einen Rucksack der Schuld mit sich, da auch sie ihren ersten Ehemann verließ, wodurch ihre Tochter gezwungen wurde, in einer Patchworkfamilie aufzuwachsen.
Als Meno im Sterben liegt, spricht er Atara wiederholt mit „Rachel“ an, was diese im höchsten Maße irritiert. Hinzu kommt, dass das Verhältnis zwischen Vater und Tochter stets schlecht war. Um dieser väterlichen Ablehnung auf den Grund zu gehen und Antworten zu finden, macht Atara sich erfolgreich auf die Suche nach Rachel, der mysteriösen ersten Ehefrau ihres Vaters. Jede Begegnung der beiden Protagonistinnen lässt sie intensiv über ihre Vergangenheit und Gegenwart, Schuld und Schicksal nachdenken und verändert ihr Leben. 

Es wird deutlich, dass die Gegenwart nur durch das Verständnis der Vergangenheit greifbar wird und dass dieser Prozess ein schmerzhafter ist, denn die Figuren des Romans tragen alle ausnahmslos viel Leid in sich. Am Ende kommt es zu einigen überraschenden Wendungen, ohne dass jedoch alle Fragen geklärt werden. Dieser offene Schluss ist – ohne zu spoilern - absolut überzeugend. Die beiden Frauen haben sich mit ihrem Schicksal versöhnt, indem sie ihr Leben so angenommen haben, wie es ist.

Großartig ist außerdem die sprachliche Leistung des Romans, der von einem variantenreichen Stil geprägt ist und von vielenaußergewöhnlichen Metaphern abgerundet wird. Der düstere Ton passt vortrefflich zu den Charakteren sowie ihren Reflexionen und durch religiöse und historische Anspielungen, derer sich die Autorin bedient, wird der Text durchaus anspruchsvoll.

Nicht nur deshalb ist es mit Abstand das beste Buch, das ich seit Wochen in den Händen hatte, und gehört schon jetzt zu meinen Lesehighlights des Jahres.