Rezension

Ein Ort, der nicht gefunden werden will …

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn man sich auf die Geschichte einlässt, erschließt sich dem Leser eine herrliche Parodie auf unsere Gesellschaft – aberwitzig und phantastisch.

Durch einen Anruf der Polizei erfährt die Wiener Physikerin Ruth Schwarz, dass ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Ein Schock für die ohnehin emotional angeschlagene Frau, die schon seit Jahren an ihrer Habilitation schreibt und nur noch mit Hilfe von Psychopharmaka funktioniert. Um die Beerdigung zu regeln will sie nun den Geburtstort ihrer Eltern, Groß-Einland, aufsuchen, da diese einst den Wunsch geäußert hatten, dort begraben zu werden. Doch Groß-Einland ist nicht leicht zu finden, es ist in keiner Landkarte verzeichnet und auch das Navi zeigt den Ort nicht an. Als Ruth nach tagelanger Irrfahrt endlich dort eintrifft, ist ihr Auto nur noch Schrott. Sie muss sich deshalb auf einen längeren Aufenthalt in dieser seltsamen Stadt einstellen, wo früher Bergbau betrieben und nach Bodenschätzen gesucht wurde und die unterirdisch von einem Geflecht aus Stollen und Minen durchzogen ist. Unter der Mitte des Ortes liegt ein riesiger Hohlraum, das Loch genannt, das die Statik der Häuser beeinflusst, Risse in den Wänden verursacht und für die Schieflage des Kirchturms verantwortlich ist. Nach und nach wird wohl alles in seinem Abgrund versinken wenn nicht ein Mittel gefunden wird, um die Gefahr aufzuhalten …  

Raphaela Edelbauer wurde 1990 in Wien geboren, wo sie auch heute lebt. Sie studierte Sprachkunst und Philosophie, war als Mitarbeiterin für die Niederösterreichischen Nachrichten tätig, schrieb Auftragsarbeiten und veröffentlichte in Literaturmagazinen. 2017 war sie Stipendiatin des Deutschen Literaturfonds für ihr Manuskript zu ihrem Roman „Das flüssige Land“ und wurde 2018 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2019 gelangte „Das flüssige Land“ auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis und war zwei Monate auf Platz drei der ORF-Bestenliste.

Die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs, das kollektive Verdrängen der Gräueltaten, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, Auswirkungen von Medikamentenmissbrauch, Liebe zur Heimat und zur Natur, sowie Ignoranz und Gleichgültigkeit vor drohender Katastrophe sind einige der brisanten Themen, die Raphaela Edelbauer in diesem Roman zwischen Realität und Phantasie, zwischen Abenteuer und Wahnvorstellung, aufgreift. Dabei entsteht von Anfang an ein Sog, vergleichbar mit dem Sog des alles beherrschenden Loches, der den Leser förmlich ins Buch hinein zieht. Man beginnt zu lesen, kann nicht mehr aufhören und will wissen, wie es weiter geht.

Der Schreibstil der Autorin ist anfangs gewöhnungsbedürftig und durch die manchmal komplizierte Ausdrucksweise und neuen Wortschöpfungen etwas anstrengend zu lesen. Zahlreiche Metaphern, unverhoffte Wendungen zwischen Poesie und skurrilem Humor und gut versteckte Andeutungen erfordern Konzentration und Aufmerksamkeit und regen zum Nachdenken an. Sie zeichnet ein atmosphärisch dichtes Bild vom Leben der Menschen in dieser seltsamen Stadt und besonders von Ruth als Ich-Erzählerin, die durch ihre Medikamentenabhängigkeit ihr Gefühl für Zeit und Raum immer mehr zu verlieren scheint. Auch die anderen Charaktere wirken sehr realistisch und passen stimmig in die manchmal alptraumhafte Handlung.

Fazit: Eine Geschichte auf die man sich einlassen muss, dann erschließt sich dem Leser eine herrliche Parodie auf unsere Gesellschaft – aberwitzig und phantastisch.  

Kommentare

wandagreen kommentierte am 01. März 2021 um 17:42

ich hätte nicht gedacht, dass dir dieser Roman gefällt. Aber warum nicht! Die Rezension ist sehr gut.