Rezension

Grandios

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

Bewertet mit 5 Sternen

Ruth Schwarz ist Physikerin und habilitiert sich gerade. Die Nachricht vom Unfalltod ihrer Eltern konfrontiert sie - mitten in der Arbeit an ihrer Antrittsvorlesung - damit, dass sie deren Heimatort Groß-Einland nicht kennt und der Ort in Österreich nicht zu existieren scheint. Um die Beisetzung in der Heimat der Eltern zu organisieren, packt die junge Frau wie für eine Expedition in feindliches Terrain. Durch den plötzlichen Todesfall gerät ihr Leben förmlich ins Rutschen, als würde ein Schiff im Sturm hin- und hergeworfen. Ähnlich einer Mindmap entsteht allmählich vor Ruth ihre Familiengeschichte als an den Rändern weiterwucherndes Lebewesen. Bäume spielten eine wichtige Rolle darin. Der Großvater nahm als Holzfäller noch direkt wahr, ob ein Baum krank oder gesund ist, ihr Vater, der in diese Welt eingeführt wurde, kaum dass er laufen konnte, interessierte sich schon als Kind ganz wissenschaftlich dafür, was im Innern einer Pflanze passiert. In der Fantasie ihrer Mutter existierte eine Welt, in die man mit einer Leiter hinabsteigen und dort Dinge finden konnte. Wie Ruth in der dritten Generation als Physikerin die Dinge sieht, ist Thema des Romans. Groß-Einland schließlich, (der Ort, der angeblich nicht existiert) konfrontiert die Besucherin mit einem realen Berg, der offiziell und illegal jahrhundertelang ausgehöhlt, nach Bodenschätzen durchsucht, verfüllt und wieder bebaut wurde. In der Gegenwart senkt sich das Gelände in rasantem Tempo, Spalten bilden sich, Gebäude zerfallen, ein gewaltiges wirtschaftliches Problem. Es gibt in Groß-Einland kaum Beobachtungen, denen durch Erinnerungen der Einheimischen, Legenden oder Dokumente nicht weitere Facetten hinzugefügt werden können. So wurden die Bergwerksschächte im Nationalsozialismus genutzt und dienten anschließend dazu, Dinge und Spuren zu verbergen, derer man sich schämte. Man könnte sich fragen, ob dieses Loch ein Lebewesen ist, das die Menschen versklavt, was wiederum ein starkes Symbol sein könnte für reale Probleme außerhalb der Puppenstuben-Welt von Groß-Einheim. Auch wenn Ruth ein Arbeitsplatz angeboten wird, fühlt sie sich für die Probleme der Stadt nicht qualifiziert, schließlich ist sie keine Geologin.

Raphaela Edelbauer lässt ihre Leser stets spüren, dass zu Ruths Wahrnehmung als Icherzählerin weitere Facetten existieren, abweichende Erinnerungen, Erzählungen verschiedener Zeitzeugen, unterschiedliche Interpretationen. Ruth könnte sich in einem fantastisches Szenario befinden, das nur in ihrem Kopf existiert, sie könnte ebenso gut an Wahnvorstellungen leiden – und sie wird aus ihrer Welt immer wieder herausgeholt und in eine andere Realität gestellt. Aus Ruths Sicht ist die Landschaft ständig aktiv, verflüssigt sich, durchdringt Gegenstände. Wie jemandem Dinge entgleiten, Zeitabläufe sich verselbstständigen und Proportionen sich verschieben, das beschreibt die Autorin sprachlich originell wie beängstigend. Neben der Gratwanderung zwischen Ruths psychischer Angeschlagenheit und realen Ängsten um Heimat, die wohl jeder empfindet, bietet das ehemalige Bergwerk eine reiche Symbolik um Mythen, das Verbergen, sich Opfern, Versklaven und die Gier nach Reichtürmern. Icherzähler im Roman sind ein Wagnis, das komplett scheitern kann. Edelbauers Icherzählerin Ruth, als Physikerin eher nüchtern im Urteil und mit einem Missmut gegenüber Perlenketten, erlebe ich als spröde Person, die mir die Augen für erstaunlich viele Facetten von Heimat, Landschaft und Zeit geöffnet hat. Ein grandioser Roman.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 27. August 2019 um 01:20

Niemals. Ein grandioser Mist bisher, ein Kafkaimitat (bin allerdings erst zur Hälfte durch). Langweilig noch dazu.

Naibenak kommentierte am 27. August 2019 um 08:11

Ui...scheint mir wieder ein schön polarisierender Roman zu sein^^ Hatte schon eine weitere begeisterte Meinung von einer geschätzten Leserin gesehen ;)

wandagreen kommentierte am 27. August 2019 um 08:49

wo denn?

Naibenak kommentierte am 27. August 2019 um 08:57

Auf lb - du hast es sogar kommentiert, habe ich soeben gesehen ;)

wandagreen kommentierte am 28. August 2019 um 08:11

Lektüre beendet. Eine sehr hübsche Rezension, liegt hier vor. Die allerdings in ihrer Wortwahl vom gelesenen Roman angesteckt wurde. Die ganze Symbolik mit den Bäumen und der Natur führt indes - wie alles andere - ins Leere.