Rezension

Fesselnder Mix

Alles, was wir sind - Lara Prescott

Alles, was wir sind
von Lara Prescott

Bewertet mit 5 Sternen

Der bekannte russische Dichter Boris Pasternak stellt seinen Roman „Dr. Schiwago“ fertig, doch in der Sowjetunion wird das Buch aufgrund der staatsfeindlichen Schilderungen nicht veröffentlicht. Als ein italienischer Verleger sich um die Rechte des Romans bemüht, um diesen in Europa zu veröffentlichen, willigt Pasternak ein und tritt damit eine Lawine los, die ihn in seinem Land das Leben kosten könnte. Der Roman erscheint und wird zum Bestseller. Mitten im Kalten Krieg wird der US-amerikanische Geheimdienst auf diesen Literaturerfolg aufmerksam. Die CIA lässt den Roman im Original drucken und schmuggelt das Buch in die Sowjetunion, um Widerstand in der Bevölkerung zu wecken. Als der KGB davon erfährt, versucht er mit allen Mitteln die Verbreitung des Romans zu verhindern. Als Pasternak dann auch noch der Nobelpreis verliehen wird, sieht die Sowjetunion sich gezwungen zu handeln. Es ist der Kampf der Systeme, die einen Roman kurzzeitig zum Spielball der Macht machen und dadurch das Leben einiger Menschen tiefgreifend verändern.

Meinung

„Alles, was wir sind“ erzählt die Geschichte eines berühmten Romans; Doktor Schiwago. Der sensible Schriftsteller und Arzt Schiwago, hin und her gerissen zwischen seiner Familie und seiner großen Liebe Lara und das alles vor dem historischen Umbruch der russischen Oktoberrevolution. „Dr. Schiwago“ wurde bei seinem erscheinen zu einem Politikum, zum Spielball im Kalten Krieg. Der Roman „Alles, was wir sind“ beruht auf wahren Tatsachen. Dafür hat die Autorin Lara Prescott aufwendig recherchiert.

Die Geschichte spielt über das gesamte Jahrzehnt der 1950er. Dabei wechseln sich Ost und West ab, sodass die Handlung aus völlig unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Den Anfang macht Olga, also der Osten. Sie ist Pasternaks Geliebte. Eine verhängnisvolle Liebe zu Zeiten Stalins und Chruschtschow. Noch bevor Schiwago überhaupt fertig gestellt ist, verbringt sie drei Jahre im Arbeitslager. An Pasternak selbst traut man sich nicht heran, zu groß ist seine Beliebtheit. Als der Roman beendet ist, findet sich in der Sowjetunion niemand, der es wagt,das Buch zu veröffentlichen. Am Beispiel von Pasternak wird deutlich, wie der Staat seine Macht ausspielt, wie sehr er über die Kultur bestimmt und wie er es versteht sein Volk zu manipulieren. Olgas Schilderungen vom Umerziehungslager sind erschreckend. Dort sind keine Straftäterinnen, sondern nur Frauen, die die rechtliche Willkür einer Diktatur zu spüren bekommen.

Auch in Pasternaks Gedanken tauchen wir ein und erfahren seine Sicht der Dinge. Ich kann verstehen, dass er seinen Roman veröffentlichen will, dass er den Nobelpreis annehmen will, doch er bringt damit nicht nur sich selbst, sondern vor allem Olga und ihre Kinder in Gefahr. Er nimmt meiner Ansicht nach wenig Rücksicht. Drei Jahre hat sie wegen ihm schon im Lager verbracht. Sie, nicht seine Frau! Und es werden nach seinem Tod weitere hinzukommen. Wohl wissend welche Konsequenzen sein Handeln haben könnte, lässt er zu, dass Schiwago in Europa veröffentlicht wird. Er unternimmt auch keinerlei Anstrengung Olga herauszuhalten. Jedenfalls wirkt es auf mich so.

Im Westen, in Washington D.C., sind die Frauen nach dem zweiten Weltkrieg wieder auf ihren Platz verwiesen worden. Die meisten fügen sich in die neue alte Welt, heiraten, werden Mutter. Nur wenige bleiben dem Geheimdienst treu. Die feine, aber auf den Punkt gebrachte Kritik der Autorin hat mir sehr gefallen. Sie sagt wie es ist. Die Männer, egal wie unfähig, machen Karriere, die Frauen, mit gleicher Qualifikation, bleiben Stenotypistinnen. Auch sonst finden sich in dem Roman einige deutliche Seitenhiebe auf das patriarchische System.

Die Grundzüge dessen, was den Westen bewegt, erzählen uns eben diese Stenotypistinnen. Es ist ähnlich wie der Klatsch auf dem Büroflur, den man im Vorübergehen aufschnappt. Informativ, kurzweilig und wahrhaftiger als so manches offizielle Statement. Jedenfalls erzählen sie uns von früher, von jetzt und erklären den Lesern die Zusammenhänge und versorgen uns mit allen Neuigkeiten. Tiefer in die Geschichte steigen wir mit Irinas und Sallys Erzählungen ein. Aus ihren Perspektiven erleben wir sowohl ihre Liebesaffäre als auch ihre geheimen Aktivitäten hautnah mit. In den konservativen 1950er Jahre war Homosexualität in den USA undenkbar und wurde verfolgt. Eine Haltung, die es den beiden Frauen unmöglich macht, ihre Liebe zu leben.

Die Autorin Lara Prescott hat aus einer wahren Geschichte rund um „Doktor Schiwago“, die mir bisher nicht in dem Umfang bekannt war, einen packenden und gesellschaftskritischen Roman verfasst. „Alles, was wir sind“ kritisiert dabei nicht einseitig nur die willkürliche und menschenverachtende Politik der ehemaligen Sowjetunion, sie schreibt auch über die Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf Ehefrau und Mutter reduziert wurden. Ihre Leistungen während des Krieges waren schnell vergessen und die Männer nahmen wieder ihre angestammten Positionen ein. Es war ein Zurück zu den konservativen Werten. Auch das Thema der Homosexualität oder die sexuelle Übergriffigkeit mancher Männer spart die Autorin nicht aus.

Aufgrund der klaren Unterteilung zwischen West und Ost, den verschiedenen Erzählperspektiven, die meinen Lesefluss nie gestört haben, ist der/die Leser:in immer mitten im Geschehen und lernt die Charaktere in allen Facetten kennen. Die Hauptakteurinnen des Romans sind die Frauen. Olga und im späteren Verlauf des Buches auch ihre Tochter Ira für den Osten und natürlich Irina und Sally ebenso wie der Pulk der Stenotypistinnen für den Westen. Dem Roman gelingt es großartig die Stimmung der Angst, die in der Sowjetunion umgeht, einzufangen ebenso wie die biedere, patriarchische Gesellschaft in den USA auf den Punkt zu beschreiben. Der Roman schlägt sich auf keine Seite. Kein schwarzweiß Denken, kein Gut und Böse, etwas, das mir sehr gut gefallen hat.

 

Fazit

Es ist ein lebendiger als auch bemerkenswerter Roman nach einer wahren Geschichte.