Frauen zwischen Revuetheater, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegszeit
Bewertet mit 4.5 Sternen
Vivian Morris hat Angela vor 40 Jahren ein Brautkleid genäht. Als Vivian fast 90 ist, bittet Angela sie um die Geschichte, wie sie überhaupt Angelas Vater kennengelernt hat. In ihrem Alter hat Vivian längst keine Gesprächspartner mehr und holt nun weit aus, wie es dazu kam, dass sie in den 40ern des vorigen Jahrhunderts samt der Nähmaschine ihrer Großmutter Morris zu Tante Peg nach New York ging. Vivian war als College-Abbrecherin das Schwarze Schaf einer angesehenen Familie und ihr Umzug nach New York eher eine Verbannung. Tante Peg betrieb ein Revue-Theater, in dem sie mit dem gesamten Ensemble unter einem Dach lebte. Außer dem Bühnentischler und dem Pianisten muss das ein reiner Frauenhaushalt gewesen sein, in dem Exmann Billy ein separates Appartement unterhielt. Nach einer auch beruflich schwierigen Beziehung zu Billy lebte Peg nun mit Olive zusammen, Sekretärin und Geliebter in einer Person. Vivian, das Landei, entpuppt sich zwischen Pailletten und Blattgold als die richtige Frau am richtigen Ort. Sie kann nicht nur nähen, sondern aus jedem getragenen Kleidungsstück ein Kostüm zaubern. Wo Revue-Girls keine „Kostümdirektorin“ haben, sondern selbst schneidern müssen, macht sie sich damit unersetzlich. In dem großen Haushalt wird Geld immer knapp sein, egal wie erfolgreich Pegs Revuen laufen werden, und Olive wird deshalb wie eine Mischung aus Eleanor Roosevelt und einer Gouvernante ihre schützende Hand über den „Mädels“ haben müssen.
Offiziell mit Peg als Erziehungsberechtigter stürzt sich Vivan ins New Yorker Leben. Allein schon mit den verschiedenen Lebensentwürfen in Pegs Haushalt vor Augen, die wir heute Diversität nennen, bringen ihre Beobachtungen sie ins Grübeln. Es stellten sich bereits damals zeitlose Fragen, wie eine alleinstehende Frau der 40er Jahre beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig sein kann, ob andere Frauen Geschäftspartnerinnen oder Rivalinnen sind – und in welchem Verhältnis eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu ihren Angestellten steht. Werden sie zu Freundinnen, Geliebten, der Haushälterin? Natürlich geht im New York der Kriegsjahre stets auch um Prostitution, Gewalt und ungeplante Schwangerschaften. Nach 1945 werden mit der Rückkehr der Männer aus dem Krieg verstaubte Rollenbilder wieder hervorgeholt – und für Vivian beginnt ihre Karriere als Schneiderin exklusiver Brautkleider – die Schnittstelle zu Frank und seiner Tochter, der Leserin ihrer Lebenserinnerungen. Angela muss ein geduldiger Mensch sein …
Vivians Lebensbeichte richtet sich in der Ichform direkt an Angela. Die 90-Jährige wirkt im Rückblick gereift und ihre Fähigkeit zur Selbstkritik an ihrem lebenshungrigen, leichtfertigen Ich von damals hat sie mir sehr sympathisch gemacht. Als Figur hinreißend fand ich die anfangs erst 16-jährige Marjorie, Vivians unentbehrliche Stoffhändlerin, auch sie ein Beispiel für einen interessanten Rollenwechsel von der Konkurrentin zur Mentorin.
Zu einer Zeit, in der sich Frauen zwischen Ehe und Beruf zu entscheiden hatten, habe ich Vivians Lebensentwurf als aufmunternden Kompromiss empfunden – und fühlte mich reichlich ernüchtert angesichts der Entwicklung von Frauenrollen in der Nachkriegszeit. Nicht alle angeschnittenen Themen konnten mich so fesseln wie Vivians frühe New Yorker Jahre. Als Rückblick auf Lebensentwürfe von Frauen, die vor genau 100 Jahren geboren wurden, empfehle ich den Roman dennoch gern.