Rezension

Haltung ist nicht Aussage, Text nicht Literatur

Babel -

Babel
von Rebecca F. Kuang

Bewertet mit 2 Sternen

Pamphletische Imperialismuskritik in einem als Fantasyroman getarnten Jugendbuch, gute Ideen wurden Opfer des ideologischen Anliegens.

Kann man diesem Buch vorwerfen, dass es die Erwartungen enttäuscht hat? Es wirkt ein wenig ungerecht, denn die Verlagsvermarktung und in Deutschland die irreführende Lobhudelei des Kritikers Denis Scheck gehen nicht auf das Konto der Autorin Rebecca F. Kuang. Dennoch ist sie für die Enttäuschung nach bzw. schon bei der Lektüre verantwortlich, weil sie sich nicht entscheiden konnte oder wollte, in welches Genre ihr Roman passen soll. So gut, dass er alle Genregrenzen spränge, ist er nämlich bei weitem nicht. Ist das

„Dark Academia“? [Nein – es fehlt die romantisierende Seite dieses Kostümspektakels].

Fantasy? [Nein – die magischen Elemente sind völlig unterbelichtet, obwohl aus einer originellen Idee entstanden, und nicht handlungs- oder sinntragend].

Entwicklungsroman? [Nein – ihren Protagonisten Robin hat Kuang zu keinem Zeitpunkt im Griff und kann seine Entwicklung nicht erzählerisch herleiten.]

Ein historischer Roman? [Nein – zwar erfährt man ausgewählte Fakten der Vergangenheit, aber auch viele Fiktionen und insbesondere Protagonisten, denen nichts Historisches anhaftet außer ihrem Geburtsdatum.]

Ein Bildungsroman? [Vielleicht – zusammen mit den Protagonisten geht der Roman das linguistische Propädeutikum durch.]

Ein Gesellschaftsroman? [Vielleicht – Kuang beschreibt die Zwänge an einer englischen Eliteschule des 19. Jahrhunderts und die Auswirkungen von technischem Fortschritt und Kolonialismus, und zwar kritisch]. Ein bisschen von allem steckt drin, vor allem der letzten beiden mit unterschiedlichen Gewichtungen in der ersten bzw. zweiten Hälfte des Romans.

Wen diese Liste jetzt schon angähnte, hat eine Ahnung, wie sich das Lesen anfühlt.

Zum Inhalt: Robin wird in Kanton, China, geboren, kommt als Waise in der Obhut des Sprachprofessors nach England, erhält einen vorzüglichen, aber gefühlskalten Drill in den Geisteswissenschaften, um im richtigen Alter endlich nach Babel zu kommen. Das ist die sprachwissenschaftlich-magische Fakultät der Universität Oxford, an der jene herausragenden Menschen ausgebildet werden, die sich mit Übersetzungen befassen und mit der Magie des Silbers. Diese Magie gehört zu den wirklich tollen Einfällen Kuangs: Sie wird durch Sprache hervorgerufen, und zwar durch die Diskrepanz zwischen den Bedeutungen zweier Worte in zweier Sprachen. Da sich ein Wort seltenst exakt und ohne Bedeutungsverlust oder -verschiebung von einer in die andere Sprache übertragen lässt, kann von den richtigen Leuten mittels des Mediums Silber aus dieser Diskrepanz eine magische Wirkung erzeugt werden. Das Finden dieser Wortpaare ist die Hauptaufgabe der Babbler aus Babel. Da sich Wortpaare durch Gebrauch abnutzen und da Sprachen ihre Relevanz in der Welt verlieren -man könnte fast sagen: ihren „Zauber“ -, sind die Sprecher exotischer Sprachen besonders begehrt, um die Magie aufzufrischen. Da kommen Robin und seine Freunde Ramy (Indien) und Victoire (Haiti) ins Spiel. Sie sind die Vertreter einer vielversprechenden „Diversity“ an der Universität, kommen aber bald dahinter, dass Babel ein Instrument der Macht Großbritanniens ist. Da sie sich nicht länger ausbeuten lassen wollen und generell die Ausbeutung der Ohnmächtigen durch die Mächtigen verhindern wollen, finden sie auf unterschiedlichen Wegen in den Widerstand zum System. Am Ende wird es Verrat, Vatermord und viele Opfer geben und sogar einen heroischen Versuch, in den Opiumkrieg Großbritannien gegen die Qing-Dynastie einzugreifen.

Bis dahin ist es aber ein weiter Weg – sowohl für die Protagonisten wie auch für den Leser. Denn zunächst breitet die Autorin, die eine Mixtur aus Geschichte, politischen Wissenschaften, chinesischer Philosophie und Literatur studiert hat, jede Menge sprachwissenschaftliche und linguistische Fachlichkeiten aus, die insbesondere dann beeindrucken, wenn man von dem Thema vorher noch keine Ahnung hatte. Der Rezensent gehört nicht in die Kategorie der Ahnungslosen, weshalb die vielen Ungenauigkeiten und Nebelgranaten der Autorin mir unangenehm auffielen. Das beginnt bei falschen Übersetzungen aus dem Lateinischen („disce“ S. 49, „imperium“ S. 55, „transferre/transducere“ S. 228). Nicht übersetzt oder auch nur erklärt werden hingegen die nahezu nur an englischen Universitäten üblichen Bezeichnungen der akademischen Trimester („Michaelmas", „Trinity“, „Hillary“). Vergil heißt mal Vergil, dann wieder (englisch) „Virgil“, Kaiser Karl V. heißt „Charles“ als König von Spanien (und nicht Carlos). Warum das stört? Weil es doch immerhin um Übersetzung geht!

Der ganze, längliche Übersetzungsdiskurs nervt auch, weil er erkenntnistheoretisch hinter der Grundsatzfrage zurückbleibt, ob „Übersetzung" nicht automatisch stattfindet, wenn Gedanken, Empfindungen oder Sinneswahrnehmungen in Worte gefasst werden – ungeachtet, welcher Sprache diese Worte entstammen oder gar ob sie von einer in eine andere Sprache übersetzt werden. Das sind hermeneutische Grundbegriffe, aus denen man vielleicht einen spannenden Roman machen kann. In mir erzeugt es den Eindruck, die Autorin würde das in ihrem Literaturgrundstudium Erlernte irgendwie präsentieren wollen, Universalienstreit inklusive. Besonders schwierig wird es dann, wenn Übersetzung auch noch zur Machtfrage stilisiert wird und der gelehrte Wissenseifer durch eine Kolonialismusdebatte diskreditiert wird.

Hierher gehört der Hinweis, dass der Roman im Original „Babel, or the Necessity of Violence“ heißt – der Hinweis auf die „Notwendigkeit der Gewalt“ wurde dem deutschen Publikum aber aus unerfindlichen Gründen vorenthalten.

Dahinter steckt aber das eigentliche Anliegen der Autorin, die ja kein Sachbuch zur Translationstheorie schreiben wollte: Die Ungleichverteilung von macht und Ohnmacht, Gewalt und Erdulden, die sich insbesondere im Kolonialismus versinnbildlicht, in dem eine imperialistische Großmacht eine technologisch weniger entwickelte Nation ausbeutet. Oder: Im Verhältnis Eltern- Kinder, im Verhältnis Lehrer – Schüler, im Verhältnis Reich – Arm. Überall lässt sich die durch Gewalt durchgesetzte Hierarchie finden. Ob das auch auf Sprache zutrifft, ist mehr als fraglich. Die Idee, speziell das Englische habe andere Sprachen als Lehnwörter unterjocht (S. 238), ist barer Unsinn.

In dieser engagierten Wendung gegen Imperialismus, Kolonialismus und Machtmissbrauch liegt aber auch eine Schwäche des Romans: Die Hauptfiguren haben alle ausgesprochen moderne Mindsets. Sie sind gleichberechtigt denkende, aufgeklärte, sozialkritische und basisdemokratische Typen, die überhaupt nicht in die Zeit passen. Es ist ausgesprochen einfach, das britische Weltreich zeittypisch darzustellen und böse, gefährlich und machthungrig aussehen zu lassen, wenn man es mit modernen Charakteren kontrastiert - und nur mit diesen. Zumal die Vertreter der „alten Ordnung" kaum mehr charakterisiert werden, als dass sie zuschlagen und Frauen verachten. Den „Gegnern" wird immer gleich ein mieses Motiv unterstellt oder sie sind geistig minderbemittelt. Das ist plump.

Der Autorin fehlt hier meines Erachtens die Fähigkeit, ihre Aussagen literarisch zu präsentieren, stattdessen kommen sie essayistisch und platt. Das korrespondiert mit der gerade in der ersten Hälfte des Romans auffallend lahmen Erzählweise. Gerade im häufig herangezogenen Vergleich zu Harry Potter fällt das auf: Die Gemeinsamkeit beschränkt sich auf die Tatsache, dass Jugendliche an einer englischen Magierschule arkanes Wissen erlernen. Während Rowling aber die Kinder gemeinsam und im Dialog die Merkwürdigkeiten ihrer Schule entdecken lässt, lässt Kuang das Robin meist im inneren Dialog klären. Das ist ermüdend zu lesen und folgt nicht dem guten Ratschlag "Show, don't tell". Insbesondere nervig wird das, wen wir ausschließlich auf Robins naive Einschätzung der Welt angewiesen sind, wenn es um die Beurteilung von Personen oder (Geheim-)Bünden geht.

Ja nicht missverstanden werden zu wollen, ist wohl die Sorge, die auch zum vorangestellten Disclaimer auf den allerersten Seiten geführt hat: In welcher Welt ist es notwendig zu erklären, dass es früher Sklaverei gab und dass es heute nicht vertretbar ist, Sklaven zu halten? Für mich klingt das nach dem us-amerikansichen Wokismus, vor dem sich die Autorin bewahren muss, obschon sie ihren Roman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansiedelt. Ich halte es für einen Teil der Schulbildung, die ich voraussetze, zu wissen, dass es bspw. vor 1865 in den USA die Sklaverei gab, dass also Romane, die vor diesem Datum spielen, implizit das Phänomen der Sklaverei aufweisen. Das pure Erscheinen dieses Phänomens hat nichts mit einer moralischen, ethischen oder sonstwie an Haltungsfragen orientierten Aussage zu tun. Der Disclaimer sollte also eigentlich lauten: "Bitte erinnern Sie sich an Ihre Schuldbildung und setzen Sie alle innertextlichen Aussagen in den historischen Kontext."

Kurzum:

Der Roman verspielt seine guten Ideen durch langweiliges Erzählen, eklatante Handlungsarmut, unverständlich handelnde Figuren, platte Kolonialismuskritik und allgemeine Überladenheit an kritischen Themen, durch einen naiven Gegensatz von historischer Welt (1840) zu modern angelegten Protagonisten und nicht zuletzt durch die akademische Nabelschau der imponiersüchtigen Akademikerin Rebecca F. Kuang.

1,5 Sterne gibt es für die guten Ideen und einen halben für mich, weil ich durchgehalten habe.