Rezension

Sehr bewegende Familiengeschichte

Was uns erinnern lässt - Kati Naumann

Was uns erinnern lässt
von Kati Naumann

INHALT

1977: Das Zuhause der vierzehnjährigen Christine ist das ehemals mondäne Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald. Seit der Teilung Deutschlands liegt es hinter Stacheldraht in der Sperrzone direkt an der Grenze. Ohne Passierschein darf niemand das Waldstück betreten, irgendwann fahren weder Postauto noch Krankenwagen mehr dorthin. Fast scheint es, als habe die DDR das Hotel und seine Bewohner vergessen.  

2017: Die junge Milla findet abseits der Wanderwege im Thüringer Wald einen überwucherten Keller und stößt dort auf einen Schulaufsatz von 1977, geschrieben von einem Mädchen namens Christine über die Geschichte des Hotels Waldeshöh. Dieser besondere Ort lässt Milla nicht los, sie spürt Christine auf, um mehr zu erfahren. Die Begegnung verändert beide Frauen:

Während die eine lernt, Erinnerungen anzunehmen, findet die andere Trost im Loslassen.

(Quelle: Klappentext Harper Collins)

MEINE MEINUNG

In ihrem neuen Roman „Was uns erinnern lässt“ erzählt die deutsche Autorin Kati Naumann eine großartige, sehr bewegende Familiengeschichte, die sich über mehrere Generationen erstreckt und von einem dunklen, leidvollen Geheimnis umgeben wird.

Angesiedelt ist die Handlung am Rennsteig, dem bekannten Höhen- und Wanderweg über den Kamm des Thüringer Waldes im deutsch-deutschen Grenzgebiet. Gekonnt greift Naumann in ihrer sehr einfühlsam und eindringlich geschilderten Geschichte ein wenig bekanntes, unrühmliches Kapitel der ostdeutschen Vergangenheit auf und macht uns auf die damalige Staatswillkür und die tragischen Schicksale von unzähligen DDR-Bürgern aufmerksam. Hierbei hat sie ihre Familiensaga geschickt in eine fesselnde Rahmenhandlung eingewoben, die uns mitnimmt auf eine eindrucksvolle Suche nach universellen Grenzerfahrungen und der Bedeutung von Heimat und uns mit ihrer Intensität rasch in ihren Bann zieht.

Man spürt beim Lesen sehr deutlich die vielfältigen persönlichen Bezüge der Autorin zum Thema und ihre Verbundenheit zum Thüringer Wald.

Das geschilderte Schicksal ihrer Familie Dressel ist zwar fiktiv, doch basieren die sehr anschaulich geschilderten Begebenheiten auf fundierten Recherchen der Autorin zu historischen Fakten aus Archiven und auf unzähligen Gesprächen mit Zeitzeugen, in denen sie unglaubliche und leidvolle Lebensgeschichten von Bewohnern erfuhr, die in den Sperrgebieten lebten und in der DDR zwangsumgesiedelt wurden. Viele sehr eindrückliche und lebendige Szenen stammen auch aus Erinnerungen an ihre eigene glückliche Kindheit, die sie bei den Großeltern im Südthüringischen Sperrgebiet am idyllischen Rennsteig verbrachte, und eigenen Erfahrungen am innerdeutschen Grenzgebiet. Hervorragend gelungen ist der Autorin auch die einfühlsame, vielschichtige Figurenzeichung ihrer vielen oft so unterschiedlichen Charaktere, die sehr authentisch und lebendig wirken. So hat man bald das Gefühl, die fiktiven Figuren persönlich zu kennen. Der fesselnde, eindringliche Schreibstil der Autorin ist sehr ansprechend und lässt sich sehr angenehm lesen.

Der Roman wird auf verschiedenen Zeitebenen erzählt; zum einen spielt er in der Gegenwart, mit Milla als eine der Hauptfiguren und zum anderen in der Vergangenheit mit der Familie Dressel. Dieser historische Handlungsstrang erstreckt sich über einen Zeitraum von 1945 bis in die 1977er Jahre. Durch einen Wechsel der Handlungsstränge und den verschiedenen Schauplätzen wird der Spannungsbogen allmählich immer mehr gesteigert. Zusätzliche Spannung erhält die Geschichte durch das unheilvoll über allem schwelende Familiengeheimnis, das den Dressels bis in die heutige Generation viel Leid, Traurigkeit und Unfrieden beschert hat und uns Lesern viel Stoff zum Spekulieren bietet. Sehr anschaulich hat die Autorin herausgearbeitet, wie es den Menschen damals gelungen ist, in einem penibel überwachten Sperrgebiet ein halbwegs normales Leben zu führen. Zugleich führt sie uns sehr deutlich vor Augen, welche verheerenden Auswirkungen die Zwangsumsiedlungen und staatliche Willkür auf die Bürgern damals hatten und wie sehr auch noch Jahrzehnte später diese Erlebnisse ihr Leben prägen.

Ein durchaus beklemmender, bedrückender Roman der deutsch-deutschen Geschichte, der sehr lehrreich für die Gegenwart ist, und eine melancholische Geschichte über eine verlorene Zeit, die aber mit ihrem versöhnlichen Ausklang auch sehr zuversichtlich in die Zukunft blicken lässt und eine tröstliche und heilsame Kraft der unvergeßlich schönen Erinnerungen heraufbeschwört.

FAZIT

Eine eindrucksvoll erzählte, sehr bewegende Familiengeschichte und gelungene Aufarbeitung einer bedrückenden Episode aus der deutsch-deutschen Geschichte.

Ein sehr lesenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt und noch länger nachwirkt!