Rezension

Spekulative politische, auch feministische Dystopie, die mich nicht restlos überzeugt

Vox - Christina Dalcher

Vox
von Christina Dalcher

Bewertet mit 3.5 Sternen

Jean McClellan ist Spezialistin für das Wernicke-Areal im Gehirn (eine der beiden Hauptkomponenten des Sprachzentrums) und Mutter von vier Kindern. Da sie sich nie für Politik interessiert hat, wird Jean von der Machtübernahme der radikalen religiösen Sekte „Die Reinen“ in den USA überrascht, die Frauen zukünftig nur 100 Wörter pro Tag  zu sprechen erlaubt. Weiße, heterosexuelle Männer fühlten sich offenbar entthront, obwohl sie an der Macht waren,  und setzten ein simples hierarchisches Weltbild durch. Über alle Menschen herrscht Christus, über jede Frau deren Vater oder Ehemann. Frauen sind zum Ruhm des Mannes geschaffen, sie haben sittsam und unterwürfig zu sein. Alle Frauen verlieren ihre Arbeitsstellen und Parlaments-Mandate, öffentliche Tätigkeiten werden von nun an von Männern übernommen. Mit dieser Maßnahme wären angeblich alle brennenden sozialen Probleme der USA lösbar, auch Amokläufe an Schulen.

Ein Wortzähler am Handgelenk straft Mädchen und Frauen sofort schmerzhaft, wenn die Wörter-Grenze überschritten wird.  Das Mundtotmachen von Frauen umfasst auch Papier, Stifte und Briefmarken, so dass findige Frauen das Sprechverbot selbst auf schriftlichem Weg nicht umgehen können. Der Frage, wie in dieser Gesellschaft kleine Kinder mit 100 Wörtern am Tag erfolgreich von Erwachsenen das Sprechen lernen, geht Dalcher leider nicht genauer nach, obwohl mich das brennend interessiert hätte. Seit 8 Jahren sind „Die Reinen“ nun an der Macht; der amerikanische Bibel-Gürtel hat sich zum Korsett ausgewachsen. Die restliche Welt wurde in Trump-Manier zu feindlichem Gebiet erklärt.

Jeans drei ältere Kinder sind Söhne, die die Marginalisierung von Frauen unterstützen, weil sie selbst dadurch nichts zu verlieren haben. Sie plappern nach, was ihnen eingetrichtert wird, z. B. warum es besser für Jean wäre, keine Wissenschaftlerin zu sein. Das Schicksal der erst 6-jährigen  jüngsten Tochter macht Jean die Unterdrückung der Hälfte der amerikanischen Einwohner besonders schmerzhaft deutlich. Auch für Sonia gilt die 100-Wort-Grenze; sollte sie im Schlaf sprechen, muss sie sofort geweckt werden. Als der Bruder des Präsidenten durch eine Kopfverletzung eine Schädigung des Wernicke-Areals erleidet, fällt den Regierenden die stumm geschaltete Expertin Jean McClellan ein, deren Hilfe nun dringend benötigt wird. Jean will die Gelegenheit nutzen, um für Sonia und sich Privilegien heraus zu handeln, aber kann sie den Regierenden überhaupt trauen?

„Vox“, eine spekulative politische und auch feministische Dystopie, entstand aus einer Kurzgeschichte, die für eine Anthologie vorgesehen war. Es ist zweifellos ein wichtiges Buch, das schon vor dem Erscheinungstermin gerade bei Frauen in den 20ern für erhebliches Aufsehen sorgte. Bemerkenswert finde ich es schon deshalb, weil Logopäden seit langem beklagen, der Verlust von Sprache auf unterschiedlichen Ebenen würde in der Literatur zu selten thematisiert. Aus dem Schatten von Margaret Atwoods großem dystopischen Roman „Der Report der Magd“ kann „Vox“ als kleine Schwester allerdings nicht heraustreten.  Christina Dalcher (die Autorin ist Linguistin) setzt ihren Warnruf sehr plakativ um vor einer Zukunft, in der der Zugang zu Sprache  behindert wird. Sprachlosigkeit lässt sich hier mühelos auch als Ausgrenzung, als nicht Gehörtwerden oder als Existenz von Parallelgesellschaften interpretieren.

Mich konnte „Fox“ nicht vollständig begeistern, weil für einen Umfang von 400 Seiten die Figuren recht blass blieben und die Icherzählerin  Jean McClellan für meinen Geschmack einen zu begrenzten Blickwinkel auf sich und die eigene Familie hatte. Logisch, so wünscht sich das System der „Reinen“ alle Frauen, aber lassen sich 40 Jahre Lebenserfahrung wirklich auf Befehl aus dem Bewusstsein ausradieren?

Kommentare

wandagreen kommentierte am 13. August 2018 um 18:15

Tolle Rezi, Doktorchen.