Rezension

Unterhaltsam ohne viel Tiefgang - auch für Nicht-Nerds kompatibel

88 Namen -

88 Namen
von Matt Ruff

Bewertet mit 3 Sternen

Der Roman spielt in der nahen Zukunft in einer Cyberwelt, deren sensorische Features perfektioniert worden sind. Der Protagonist John Chu arbeitet mit seinem Team als Sherpa. Sherpas sind bezahlte Guides für die angesagten komplexen Online-Rollenspiele. Er versorgt seine Kunden mit Spielcharakteren, Ausrüstung und Teamplayern und ermöglicht ihnen eine High Level Spielerfahrung, die sonst erst in Hunderten Spielstunden erreichbar wäre. Die Spielebetreiber mögen keine Sherpas - John hatte gerade eine Pechsträhne mit einem schwierigen Kunden, wieder einen seiner Avatarnamen verbrannt (noch 88 sind übrig) und hängt etwas durch. Bis er von Mr Jones kontaktiert wird: Letzterer möchte für eine horrende Summe „das volle Potenzial des Mediums erleben.“ Auftritt Mrs Pang, die das Doppelte zahlt, wenn er ihr alles über Mr Jones berichtet. Sind John & Co. mitten in obskure Konflikte zwischen China und Nordkorea geraten? John hat Bedenken und wendet sich an seine Mutter, die eine große Nummer bei der Terror-Abwehr ist. Und dann ist da noch die – in Ermangelung eines anderen Wortes - Romanze mit Supergamerin Darla, die sich im Zorn von John getrennt hat.

Für die Gamer-Terminologie gibt es ein Glossar am Ende des Romans, das sich witzigerweise wie der Anhang eines Sherpa-Vertrages liest, und am Anfang jeden Kapitels werden weitere Begriffe erklärt – oft mit ironischem Twist.  So ganz ohne Google bin ich allerdings nicht ausgekommen.

88 Namen war meine erste Begegnung mit dem Cyberspace – insofern hatte Ruff bei mir den Novelty-Bonus.  Fast die gesamte Handlung (und das hat mich im Nachhinein ziemlich verblüfft) findet im Cyberspace statt. Beim Lesen fühlt sich das nicht so an - Ruff führt uns durch alle möglichen Spiele und Szenarien, und das macht er so geschickt, dass kein Befremden oder Langeweile aufkommt. Jedes Game führt die Story weiter. Immer, wenn John nicht weiter weiß, muss seine Mutter ran – das fand ich etwas nervig, denn ohne diese sehr praktische Figur, die mir wie eine Dea ex Machina vorkam, wäre die Handlung nicht möglich gewesen – dramaturgisch ungeschickt. Auf einige längere Passagen zum Thema Cybersex hätte ich übrigens verzichten können. Am Ende vermischen sich das reale und das virtuelle Leben – was mir grundsätzlich gefiel, nur leider fiel die Auflösung reichlich konstruiert aus. Die Kernfrage, die schon im Klappentext suggeriert wird und mich an dem Roman primär gereizt hat, blieb offen: nämlich, was jemand wie Kim Jong-un mit tiefen Kenntnissen über Online Video Games anfangen würde.

Positiv fand ich Ruffs liberalen Ansatz, sowohl gendermäßig als auch in Fragen der Rasse - wenn er auch manchmal etwas dick aufträgt - und seine unkonventionelle Denke. Klar wird, dass der Cyberspace seine Gefahren birgt, denn Identitäten kann man faken. Identitäten können aber auch beschränken; sie bewirken vielleicht, dass das Gegenüber damit feste Zuschreibungen verbindet und nicht den Menschen dahinter erkennen kann. Insofern ist der Cyberspace eine Möglichkeit, so gesehen zu werden, wie man wirklich ist – und das kann man an unseren Worten und Handlungen erkennen; es hängt nicht davon ab, wie alt man ist, männlich oder weiblich, behindert oder fit, oder welche Nationalität oder Hautfarbe man hat. Der einzige Ort, an dem man wirklich frei sein kann, ist also der Cyberspace? Steile These – aber durchaus diskussionswürdig. Was mir gefehlt hat, war die kritische Beleuchtung des enormen Einsatzes von Lebenszeit. Was bedeutet es, im Wesentlichen virtuell zu leben? Immerhin wurde der Suchtfaktor verhandelt (ein gesperrter Spieler bringt sich um); das blieb aber episodisch und an der Oberfläche.

Dennoch: Ruff schreibt flüssig, die Cyberwelt hat mich durchaus gefesselt, Figuren und Dialoge kann er auch, und gelangweilt habe ich mich zu keiner Zeit. Fazit: Als Unterhaltung brauchbar, als ernsthafte literarische Aufbereitung des Themas eher gescheitert.