Rezension

Virtuoses Rätselspiel um Filmkunst und Macht

Lichtspiel -

Lichtspiel
von Daniel Kehlmann

Bewertet mit 5 Sternen

"Die Zeit war aus den Fugen, überall, und man musste einen Weg finden, seine Arbeit zu machen."

Lang, Zinnemann, Siodmak, Lubitsch – sie alle gingen nach Hollywood und hatten Erfolg. G. W. Pabst, in der Übergangszeit vom Stumm- zum Tonfilm auf einer Ebene mit Lang oder Murnau, lernt nie genug Englisch, um die Geldgeber in Hollywood von seinen Ideen zu überzeugen. Nach einem Misserfolg locken die Nazis mit unbegrenzter künstlerischer Freiheit – und Pabst kehrt „heim ins Reich“. Dann bricht der Krieg aus. Aber die Nazis halten Wort: Er darf filmen, was und wie er will, egal, was es kostet. Drei Filme wird er drehen – der dritte, „Der Fall Molander“, befindet sich gerade im Schneideraum, als Prag von den Russen eingenommen wird. Er wird nie vorgeführt.

Rund um diesen Film lässt Kehlmann ein Rätselspiel entstehen. Hat Pabst für diesen Film tatsächlich, so wie Riefenstahl, KZ-Häftlinge als Komparsen verwendet? War er wirklich ein solches Kunstwerk? Oder wurde er überhaupt nie aufgenommen, wie sein greiser ehemaliger Assistent im Prolog behauptet? Erst ganz am Schluss wird das Rätsel der verschollenen Filmrollen aufgeklärt.

Fest steht, der Preis für die Kunst ist hoch – aber Pabst ist überzeugt, dass die Kunst jedes Opfer rechtfertigt. Pabsts Frau Trude hat Kehlmann die Rolle der Mahnerin zugedacht: „Selbst wenn sie bleibt, die … Kunst. Bleibt sie nicht beschmutzt? Bleibt sie nicht blutig und verdreckt?“ Das eigentliche Opfer von Pabsts Entscheidung ist sein Sohn Jakob. Durch die zahlreichen Umzüge und Schulwechsel, USA, Frankreich, Schweiz, Österreich, hat er zu gut gelernt, sich anzupassen. Er will dazugehören, die Botschaften der Nazis fallen bei ihm auf fruchtbaren Boden „Wir wollen nicht mehr berühmt werden oder reich. Wir wollen für das Ganze da sein, wir wollen kämpfen, und wenn es so sein soll, dann wollen wir auch sterben für etwas, das größer ist als wir.“ Kehlmann macht aus Pabst einen Kunstbesessenen, dem nichts wichtiger ist als der nächste Film. Dass sein Sohn zum Nazi geworden ist, macht Pabst zu schaffen - aber es ist der Verlust seines dritten reichsdeutschen Films, an dem Kehlmann ihn zerbrechen lässt.

„Lichtspiel“ liest sich flüssig und extrem unterhaltsam; es ist oft auf grimmige Art komisch. Im Roman begegnet uns eine Reihe berühmter Zeitgenosse: P. G. Wodehouse, Leni Riefenstahl, Heinz Rühmann, Joseph Goebbels. Ihnen allen verleiht Kehlmann einen authentischen Ton. Großartig die unbelehrbare Riefenstahl in ihrem kalten Dünkel, das schneidend-joviale Machtbewusstsein von Goebbels oder das ironische Understatement von Wodehouse. Sie treten für ein Kapitel, manchmal nur für eine Szene, höchst lebendig aus den Buchseiten heraus.

Dann wieder gibt es Szenen, in denen den Protagonisten für Minuten die Realität entgleitet und die, albtraumhaft übersteigert, das Surreale realer wirken lassen als ihre permanent gefilterte Realität. Kehlmann verpasst seinen Protagonisten eine Art dissoziativen Gedächtnisschwund.  „War es möglich, dass nichts davon geschehen war? Konnte man entscheiden, dass es nicht geschehen war?“

Es ist verführerisch, den Roman als Biographie von G. W. Pabst zu lesen. Aber „Der Fall Molander“ ging nicht verloren, sondern befindet sich in ungeschnittenem Zustand im Prager Filmarchiv. Pabsts Sohn heißt nicht Jakob und war kein Nazi – sein Name ist Michael, geboren 1941, Kunstgalerist in München. In Kehlmanns Roman geht es nicht (nur) um die immerwährende Frage nach dem (Stellen-)Wert der Kunst. Das dem Roman vorangestellte Zitat von Heimito von Doderer verweist auf dessen Werk „Unter schwarzen Sternen“. In diesem kann man auf S. 8 über ein Phänomen lesen, das wir alle ebenfalls kennen: „Pax in bello. Wer es versteht und den Weg weiß, der lebt auch in der Hölle behaglich.“

Denn so wie wir heute unser Leben leben, während um uns herum die Welt untergeht – Syrien, Ukraine, Afghanistan, neuerdings wieder Israel – so lebt Pabst sein Künstlerleben, als befände er sich auf einer Insel. „Das hier sind jetzt meine Umstände.“ Wir schauen die neueste Staffel von Babylon Berlin und gruseln uns wohlig angesichts des historischen Tanzes auf dem Vulkan. Der letzte Wahlerfolg der AFD provoziert erneut Vergleiche mit der Weimarer Republik. Pabsts „Umstände“ sind nicht so weit entfernt von unserer Lebensrealität, wie man glauben könnte. Das vermittelt Kehlmanns Roman auf virtuose Weise.