Rezension

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Götterdämmerung eines Künstlers

Lichtspiel -

Lichtspiel
von Daniel Kehlmann

Bewertet mit 3 Sternen

Daniel Kehlmann ist ein fantastischer Schriftsteller, der es wie kein Zweiter versteht, Fakten und Fiktion zu begeisternden Romanen zu verschmelzen. 
„Die Vermessung der Welt“ und „Tyll“ sind seine herausragenden Werke. 
Aber auch ein großer Meister seines Fachs kann einmal danebengreifen, bzw. über‘s Ziel hinausschießen. So geschehen nun bei Kehlmanns neuestem Roman „Lichtspiel“. 
Begeisternd wie eh und je die Prämisse, eine Geschichte, die G. W. Pabst, einen fast vergessenen Regisseur der Weimarer Republik, der u.a. Greta Garbo und Louise Brooks entdeckte, in den Mittelpunkt stellt. 
Pabst, der gebürtige Österreicher, der legendäre Filme, wie „Die freudlose Gasse“ und „Die Büchse der Pandora“ schuf, der in Hollywood scheiterte, und der sich im Dritten Reich von Joseph Goebbels einspannen ließ. 
Was für eine Geschichte! 
Kehlmann erzählt in großen Zeitsprüngen Kaleidoskop- artig von Pabsts Abstieg. Eben ist er noch der gefeierte Regie - Star neben Fritz Lang, Ernst Lubitsch und F. W. Murnau, und will sein Glück in Hollywood versuchen, scheitert aber nicht zuletzt an seinem schlechten Englisch. Desillusioniert kehrt Pabst mit Frau und Sohn erst nach Frankreich zurück, dann nach Österreich, in seine Heimat, die nun Ostmark heißt, um nach seiner alten Mutter zu sehen. Dort wird er 1939 vom Krieg überrascht, der ihm den Weg zurück in die USA verwehrt. Weil er unbedingt Filme machen will, geht er einen Pakt mit dem Teufel ein. 
Kehlmann erzählt dieses furiose Schicksal allerdings nicht aus Pabsts Sicht, sondern er entscheidet sich für eine Multi- perspektivische Struktur. Mal kommt Pabsts Ehefrau Trude zu Wort, mal der gemeinsame Sohn Jakob, dann wieder erzählt ein britischer Kriegsgefangener, hinter dem sich P. G. Wodehouse, der englische Schriftsteller versteckt, der ebenfalls für die Nazis tätig war, vom Besuch der Premiere des Pabst Films „Paracelsus“. Die Klammer der Erzählung bildet Pabsts fiktiver Regieassistent Franz Wilzek. Dieses Konstrukt ist eindrucksvoll, das Puzzle zwischen realen und erdachten Protagonisten beeindruckend recherchiert. Das Multiperspektivische allerdings führt dazu, dass G. W. Pabst selbst, wie sein eigener Komparse wirkt. 
-(Hartnäckig werden im Roman im übrigen die Komparsen als Statisten bezeichnet. Statisten agieren im Theater, Komparsen beim Film…)- 
Da Pabst als still und eher introvertiert beschrieben wird, bleibt er den ganzen Roman hindurch blass und einsilbig. 
Der Beginn des Buches weiß mit seinem vollendeten Stil, der den Leser in einen wundervollen Rhythmus zieht, zu begeistern, kaum allerdings, dass wir in Österreich im Dracula- mäßig anmutendem Familienschloss Dreiturm angekommen sind, bevölkert plötzlich eine Karikatur- hafte Hausmeister Familie die Szenerie. Nazis, die aus einer Monty Python- Show zu stammen scheinen, und den Roman auf ein vollkommen anderes Level ziehen, der Nazi- Satire. Begegnungen mit weiteren Protagonisten, wie Joseph Goebbels, dem nationalsozialistischen Autor Alfred Karrach, sowie Ehefrauen von wichtigen Funktionären, werden satirisch überspitzt dargestellt, was man einzig bei der Beschreibung Leni Riefenstahls verzeihen kann. 
Sehr oft hat man bei der Lektüre die Ahnung, dass Kehlmann schon das Theaterstück, oder das Filmskript zum Roman vor Augen hatte, denn endlose, statische Dialoge füllen die Seiten. 
Zur historischen und literarischen Götterdämmerung kommt es dann bei Pabsts letzten Film des Dritten Reichs, „ Der Fall Molander“. 
Dieser Film gilt als verschollen. Befragt man das Internet, findet man allerdings den Hinweis, dass sich dieses Werk, in welcher Form auch immer, in einem Archiv in Prag befindet. 
Kehlmann greift nun tief in die Trickkiste, um dem Geschehen rund um diesen Film einen Inhalt zu geben. 
Weil aufgrund einer Bombardierung keine Komparsen mehr für eine wichtige Szene des Films vorhanden sind, schafft der Produktionsleiter, mit Hilfe des Reichsprotektors, der Wehrmacht und der SS, eine ganz besondere Gruppe von Komparsen heran… Pabst schaut über die ausgemergelten Menschen hinweg und dreht. Mit diesem Tun hat er endgültig seine Unschuld verloren. 
Das ist inhaltlich natürlich bombastisch, das Handeln Pabsts moralisch verwerflich, und es ist eine steile These. 
Man hofft, dass es sich hierbei wirklich um Fiktion handelt, und stellt sich doch gleichzeitig die Frage, darf man das? 
Wie in Klaus Manns Roman „Mephisto“ geht es um die Frage, ob man sich für die Kunst auch in den Dienst von Diktatoren stellen darf. 
Im Gegensatz zu Mann, der in „Mephisto“ seinen Freund und Schwager Gustaf Gründgens, alias Hendrik Höfgen, porträtiert, wählt Kehlmann für seinen Darsteller kein Pseudonym. 
„Mephisto“ wurde 1971 nach einem Urteil, das Gründgens Adoptivsohn und Erbe erwirkt hatte, in der Bundesrepublik Deutschland verboten, da er Persönlichkeitsrechte verletze. 
Die Diskussion um Kunstfreiheit und Grundrechte Dritter könnte man auch im Fall von „Lichtspiel“ diskutieren, aber wahrscheinlich ist Pabst schon zu lange tot. 
Eine letzte Anmerkung habe ich, die ich seit über 40Jahren im Filmschnitt arbeite, noch zu der Darstellung des Schneidens eines Filmes. Wenn auch 1945 noch analog geschnitten wurde, so handelt es sich doch gleichwohl um einen Tonfilm. Um einen Tonfilm zu schneiden, braucht man natürlich den Ton, da die Gestaltung stark von den Dialogen abhängt. Bildmaterial und Tonmaterial werden synchron angelegt und dann geschnitten. Eine Lichttonspur, welche auf das fertige Positiv gespielt wird, wurde immer erst nach Fertigstellung des Filmes bei der Mischung erstellt. Hätte man im Schnittprozess den unfertigen Film retten wollen, hätte man neben den Filmrollen ebensoviele Cordbände, auf denen sich der aufgenommene Ton befand, mitnehmen müssen. Zudem wurde wohl nie auf Negativ geschnitten, denn was hätte man darauf erkennen sollen? Die Nuancen im Spiel der Darsteller? 
„Lichtspiel“ erzählt eine komplexe, hochinteressante Geschichte, deren Umsetzung jedoch in meinen Augen nicht gelungen ist.