Rezension

Literarisch Morden oder die späte Genugtuung der Dichterinnen

Grimms Morde - Tanja Kinkel

Grimms Morde
von Tanja Kinkel

Bewertet mit 5 Sternen

Als hätten sie sich abgesprochen ... Tanja Kinkel fängt da an, wo Karen Duve („Fräulein Nettes kurzer Sommer“) aufhört: die junge Dichterin Annette von Droste zu Hülshoff hat gerade ihre „Jugendkatastrophe“ hinter sich - ein Techtelmechtel, zum falschen Zeitpunkt und von den falschen Personen eingefädelt und ausgeschlachtet - als sie mit ihrer Schwester Jenny vom Münsterland nach Kassel reist, um den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm bei der Aufklärung eines Mordes zu helfen. Die Hilfe der Damen ist Ehrensache, handelt es sich bei dem Tötungsdelikt doch um ein literarisches Verbrechen, denn der Täter muss die Märchensammlung der Brüder Grimm sehr genau gekannt haben, und auch Annette und ihre Schwester sind mit den Texten aufs Präziseste vertraut.

Die Vorgehensweise bei Tanja Kinkel ist anders: wo Duve sehr nah an den historischen Fakten spekuliert, wie es gewesen sein könnte, wissen wir ziemlich genau, was bei Kinkel alles hinzuerfunden wurde. Und das - hochvirtuos. Denn alle unsere Helden sind reale Personen, und das nicht etwa aus einem blinden Flecken wie etwa dem 6. Jahrhundert, sondern aus der akribisch aufgezeichneten Romantik, und ich ziehe den Hut vor der Rechercheleistung von Frau Kinkel und dem nahtlosen Ineinanderpuzzlen von realen und fiktiven Details.

Kinkels Erzählstil ist ausholend, aber so muss es bei diesen komplexen Zusammenhängen auch sein. Ich finde detailreiche Szenen, wie die, in der Annette zum ersten Mal einen echten Rembrandt zu sehen bekommt, faszinierend. Und letztendlich ist alles miteinander verwoben, und die Details formieren sich zu einem sinnvollen Ganzen. Kinkel nimmt sich Zeit, ihre vier literarisch versierten Detektive fein zu charakterisieren. Und obwohl alle Vier grundverschieden sind und sich gegenseitig oft sehr skeptisch beäugen, versteht man als Leser doch jeden von ihnen; so jedenfalls ist es mir gegangen. Jacob Grimm mochte ich von Anfang an, trotz seiner Bärbeißigkeit, und im Laufe der Erzählung wuchs er mir sogar richtig ans Herz. Dass Stinkstiefel wie August von Haxthausen oder Polizeioberwachtmeister Blauberg trotz ihrer unverkennbaren Arroganz differenziert dargestellt werden, ist ein weiterer Pluspunkt.

Die Autorin überzeugt durch eine virtuose Sprachhandhabung, dabei immer darauf bedacht, nicht zu modern zu formulieren. Herrlich, diese lakonischen Kommentare, die sie Jakob Grimm immer wieder in den Mund legt! Aber auch das Fräulein Nette ist nicht auf denselben gefallen, und als Leserin spürt man eine tiefe Genugtuung, dass die später berühmt gewordene Schriftstellerin hier nun endlich einmal das tun darf, was man von ihr als Frau in der Familie nie duldete: im Mittelpunkt stehen und ihre Gerissenheit unter Beweis stellen. Nicht nur in dieser Hinsicht macht das Buch großen Spaß!

Große Kapitelabschnitte sind mit originalen Brief- oder Gedichtzitaten gesäumt. Dadurch erreicht Kinkel eine vollendete Abrundung. Ich werde wirklich allmählich zu einem Fan dieser Frau. Hin und wieder nur zeugen winzige grammatikalische Unkorrektheiten von einem möglicherweise eilig durchgeführten Lektorat, fallen aber nicht ins Gewicht.

Tanja Kinkel brilliert hier mit einem historischen Roman, dem es an nichts fehlt: gute Unterhaltung, kriminalistische Spannung, Wortwitz, historische Zusammenhänge, Gesellschaftskritik, hervorragende Recherche. Fünf Sterne!