Digital Detox bis zur Obsession
Bewertet mit 4 Sternen
Mila geht offline. Und zwar nicht nur kurz, sondern so richtig: Nach und nach löscht sie alle Informationen, die über sie je im Internet zu finden waren, und kehrt auch Social Media den Rücken. Einzig eine Messenger-App nutzt sie weiter als Desktop-Anwendung, allerdings nur für ein kurzes Zeitfenster pro Tag, und auch SMS sind noch erlaubt; von Instagram, Twitter, selbst von Google-Suchen und dem Smartphone als solchem verabschiedet sie sich jedoch vollkommen. Auch auf Fotos und Video-Aufnahmen will sie fortan nicht mehr zu sehen sein, was nicht nur gesellige Abenden mit Freund*innen, sondern auch das Vors-Haus-Gehen im Allgemeinen merklich erschwert. Teil ihrer Planung ist nun immer die Überlegung, zu welcher Tageszeit ein bestimmter Ort am sichersten ist, sprich, wann dort möglichst wenige Menschen anzutreffen sind, da mit der Personenanzahl auch die Gefahr steigt, dass irgendjemand mit dem Handy Aufnahmen macht, auf denen sie absichtlich oder unabsichtlich zu sehen sein könnte.
Was harmlos beginnt und von ihrem Bekanntenkreis zunächst noch recht positiv als Detox-Maßnahme aufgenommen und unterstützt wird, entwickelt sich erschreckend schnell zur Obsession. Die Wohnung verlassen kann Mila quasi nur noch nachts, sämtliche elektronischen Geräte sind eine Gefahr. Der Kontakt zu anderen Menschen geht gegen Null.
Bald schon erinnert Mila in ihrem Verhalten und ihren Ansichten immer mehr an eine Verschwörungstheoretikerin. Kurios auch die Annähreung an ihren Bruder, der seinerseits bei Oma A. auf dem Land lebt und eingefleischter Corona-Leugner und Impfgegner ist - zwar kritisiert Mila sein Verhalten zu Beginn, die Vehemenz hinter ihrer Ablehnung lässt jedoch im Laufe der Zeit spürbar nach und sie entwickelt eine ganz eigene und auf vollkommen andere Weise radikale Sichtweise und Systemkritik.
So unverständlich einige von Milas Ansichten und Verhaltensweisen sind, so nachvollziehbar sind doch manch andere - phasenweise wird man auch als Leser*in des Romans durchaus etwas paranoid, was technische Geräte anbelangt. Die dramaturgische Gestaltung des Romans hat mir ausgesprochen gut gefallen, denn ja, es gibt einige Längen und irgendwann wiederholt sich alles für eine gewisse Zeit, aber das veranschaulicht auch extrem gut den Alltag Milas, indem einfach nichts mehr passiert. Erst beim vollständigen Verzicht auf Social Media und das Internet wird deutlich, wie groß die Bedeutung derselben in unserem Alltag geworden ist, und wie wenig da noch bleibt, wenn man nicht mal gerade etwas googeln, Musik hören oder mit irgendwem auf irgendeiner Plattform kommunizieren kann. Denn sind wir mal ehrlich, so ist es doch. Man möchte sich unterhalten? Schnell jemandem schreiben. Etwas mitteilen? Ein Post. Unterhaltung? Netflix, Spotify und Co. Etwas kaufen? Tausend Möglichkeiten. Eine Information? Google, die Wetter-App, der Onlinefahrplan. Etwas zu Essen bestellen oder irgendeine Eintrittskarte besorgen? Alles schnell per App. Die Uhrzeit? Blick auf Smartphone oder Smartwatch. Und wenn das alles wegfällt, wenn wir plötzlich analog sind, also so richtig, was bleibt dann noch übrig? Kein Wunder also, dass bei Mila schon bald nichts mehr los ist. Beim Lesen ist das vielleicth etwas langweilig, aber absolut passend und sehr realistisch und nachvollziehbar. Und darauf, dass Jenifer Beckers Roman topaktuell und am Puls der Zeit ist, muss wohl nicht weiter eingegangen werden.
Ich habe "Zeiten der Langeweile" mit einigen kleineren Abzügen sehr gerne gelesen und empfehle es gerne weiter.