Rezension

Eine ausgebuffte Ermittlerin mit verblüffenden Seiten

DUNKEL - Ragnar Jonasson

DUNKEL
von Ragnar Jonasson

Bewertet mit 4 Sternen

Hulda Hermannsdóttir von der Kripo Reykjavik wird überraschend der Stuhl vor die Tür gestellt. Ihr Chef will einen vielversprechenden jungen Kollegen einstellen, bevor der sich für eine besser bezahlte Stelle in der Wirtschaft entscheiden könnte. Hulda soll deshalb mit vollen Bezügen vorzeitig in den Ruhestand gehen. Huldas Verhältnis zu ihren Kollegen ist von Bitterkeit geprägt darüber, dass ihr Chef Magnus die Abteilung wie eine Seilschaft von jungen Männern zu führen scheint, in der für eine ältere Kollegin offenbar nur eine Nebenrolle vorgesehen ist. Die Kollegen wiederum sehen in Hulda eine einsame, alleinstehende Frau, die außer ihrem Beruf keinen Lebensinhalt zu haben scheint. Eine Zeugenbefragung lässt früh ahnen, dass die Zusammenarbeit mit Hulda für andere durchaus Schattenseiten haben kann.

Hulda „darf“ sich für die letzten zwei Dienstwochen mit einem Altfall ihrer Wahl befassen. Sie entscheidet sich für das ungeklärte Schicksal einer jungen Asylbewerberin aus Russland, zu deren Tod vor 2 Jahren nach Huldas Ansicht nur oberflächlich ermittelt wurde. Die Leiterin der Asylbewerber-Unterkunft und der ermittelnde Kollege können kaum etwas über die Frau erzählen, die kurz nach der Bewilligung ihres Antrags starb. Der Handlungsstrang in der Gegenwart aus Sicht eines subjektiven personalen Erzählers wird ergänzt durch weitere subjektive Sichtweisen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erzieht eine junge Frau ihre kleine Tochter unter schwierigen Bedingungen und ein seltsam wirkender Mann bereitet offenbar einen Ausflug im beginnenden Schneetreiben vor. Hulda steht indessen unter Druck durch die drohende Pensionierung, die sie offenbar völlig verdrängt hatte, und im Fall Elena läuft ihr die Zeit davon.

Während ich Hulda in den ersten Kapitel beinahe als wandelndes Klischee einer älteren Frau aus der Sicht eines jungen Autors erlebt habe, hält Ragnar Jónasson ab der Mitte seines Romans einige Überraschungen bereit. Die Menschen und die Ereignisse entpuppen sich auf den zweiten Blick als völlig anders, als Hulda sie durch die Brille der Erzählerstimme zunächst einschätzt. Und auch Hulda zeigt sich als Frau mit verblüffenden Seiten. Die Wendungen werden weniger durch Ermittlungen herbeigeführt, sie platzen überraschend hervor und können bis zur letzten Seite verblüffen. Wenig charmant fand ich den teils gestelzten Stil und die förmliche Anrede der Figuren mit „Sie“, beides will aus meiner Sicht nicht zu Island als Handlungsort passen.

Wer den klischeehaften Beginn überstanden hat, kann mit Überraschungen rechnen – die wiederum die Neugier auf Folgebände wecken.

Die Serie

Der erste Band der Hulda-Serie erschien im Original 2015. 2018 wurde der Roman zuerst in Englische übersetzt und aus dem Englischen wiederum 2020 ins Deutsche.