Rezension

Sehr realer Horror

Mr. Mercedes
von Stephen King

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Die wirtschaftliche Lage ist nicht gerade rosig. Hunderte Arbeitssuchende haben sich vor der Stadthalle versammelt, um zu den ersten auf der Jobbörse zu gehören. Da rast ein grauer Mercedes unaufhaltsam in die Menge, setzt zurück und nimmt erneut Anlauf. Viele Tote und Verletzte bleiben zurück, der Täter entkommt. Das Auto wird gefunden: auf dem Beifahrersitz eine Clownsmaske, auf dem Lenkrad ein Smilie. Die Besitzerin des Wagens schwört, sie hat das Auto abgeschlossen, aber keiner glaubt ihr, denn es gibt keine Einbruchsspuren, auch wurde der Mercedes nicht kurzgeschlossen.

 

Monate später – Detective Bill Hodges ist inzwischen im Ruhestand – gibt es noch immer keine Spur vom Täter. Aber der war nicht untätig. Olivia Trelawney hat Post von ihm bekommen. Und Hodges ebenfalls. Bill beschließt, ein wenig auf eigene Faust zu recherchieren. Jerome Robinson, ein farbiger Teenager aus der Nachbarschaft, der sich mit Rasenmähen und anderen kleinen Jobs ein wenig Taschengeld verdient, weiht Bill ein. Gemeinsam entdecken sie eine Reihe kleiner Geheimnisse und kommen Mr Mercedes immer näher. Doch dann sieht es aus, als hätten sie zu spät erkannt, wer hinter all dem steckt ...

 

Stephen King hat hier einen hervorragenden Roman vorgelegt. Es ist ein Thriller – und zwar einer, der heftig auf die Psyche geht.

 

King zeigt, dass Horror nicht immer mit etwas Übersinnlichem zu tun haben muss. Auch der ganz normale Wahnsinn ist Horror. Und mal im Ernst: wenn ein Typ Dein Auto stiehlt, das aussieht, als hätte er es gar nicht aufgebrochen und er damit in eine Menschenmenge fährt – ist das nicht Horror pur? Ist das nicht ein Symbol für das, was 9/11 geschehen ist? Zumal „Mr. Mercedes“ auf wahren Ereignissen basiert: King kam die Idee, als er in den Lokalnachrichten von South Carolina von einem ähnlichen Mord erfuhr. Also mich hat King jedenfalls von der ersten Zeile an auf eine irre Fahrt durch die Story mitgenommen und mir keine Chance gelassen, an irgendeiner Kreuzung mal eben auszusteigen. Ging nicht.

 

Die Charaktere sind – wie immer bei King – mit wenigen Pinselstrichen klar und deutlich gezeichnet. Die eigene Phantasie darf und kann die Figuren ausmalen und dem eigenen Kopfkino anpassen. King hat ihnen Eigenschaften mitgegeben, die sie sehr individuell werden lassen, auch wenn es viele Klischees gibt. Besonders gut gefällt mir Holly Gibney. Psychisch nicht gerade auf der Höhe, aber menschlich einfach großartig. Zusammen mit Bill und Jerome bildet sie ein geniales Team. Dass Schwächen auch als Stärke genutzt werden können und nicht immer alles so ist, wie es dem Auge des Betrachters vorkommen mag, zeigt King in diesem Buch mehr als einmal. Auch hier steckt viel echter, wahrer Horror: wie oft haben wir anderen schon Urecht getan, weil wir ein falsches Bild von ihnen hatte, Vorurteile hegten und blind für die Wahrheit waren? Welche Folgen hatte das für diese Personen?

 

Der Stil ist wie immer bei King: keine unnötigen Beschreibungen, kurze Kapitel, nicht allzulange Absätze. Sehr gut zu lesen, interessant, spannend und unterhaltsam. Immer mal wieder ein Lacher oder Grinser dazwischen, der so gar nicht passen mag, aber dann trotzdem gut tut. Und auch Selbstironie findet sich – spielt King doch u.a. auf ES und „Blind“ (ein Roman seines Sohnes Joe Hill) an. Herrlich!

 

Mir gefällt auch, dass King sich nicht zu schade ist, auch über Dinge zu schreiben, die relativ banal sind. So beispielsweise die Gedanken und Gefühle, die man hat, wenn jemand im Sterben liegt. Dass nicht nur der Verlust schlimm ist, sondern man sich auch noch um die Bestattung kümmern muss und das dann leichter fällt, wenn man nicht alleine ist.

 

Wie immer, kündigt King häufig quasi an, was passieren wird, verrät somit ein Stückchen der Story, erwischt den Leser dann aber trotzdem eiskalt, wenn er dann erzählt, wie es dazu kommt. Diesen Kniff liebe ich seit Jahren an King und habe ihn noch bei keinem anderen Autoren in dieser Intensität finden können.

 

Immer wieder drückt King Dinge in Sätzen aus, die schon fast an Philosophie grenzen. Beispiel: „Die Passanten verhalten sich so, wie sie sich immer verhalten, wenn ein Gewaltakt ein Loch in die Welt schlägt, die sie bisher für selbstverständlich gehalten haben.“ Oder: „Wenn man siebzehn ist, dann ist die Zukunft rein rhetorischer Natur.“. Genau das sind die Stellen, die mich king-süchtig gemacht haben und die sich in jedem seiner Bücher finden. Für mich ist „Mr. Mercedes“ einer der besten Kings. Besonders, nachdem ich von „Doctor Sleep“ sehr enttäuscht war, habe ich die Lektüre dieses Buches extrem genossen.

 

Wenn man King chronologisch gelesen hat und dadurch seine Entwicklung auf gewisse Weise mitverfolgt hat, dann wundert es nicht mehr wirklich, dass auch mal ein Roman ohne Monster und typische Grusel-Elemente entstanden ist. Wirklich großartig geschrieben noch dazu! Das Beste daran ist aber, dass King eine Trilogie geplant hat, also noch zwei Bände folgen werden. „Finders & Keepers“ ist der vorläufige Titel des zweiten Teiles, der im Original im Juni 2015 erscheinen soll.

 

Aber zunächst bin ich mal auf „Revival“ gespannt, das im März 2015 in Deutschland erscheinen wird. Desweiteren hat King angedeutet, dass er genug Material für eine neue Kurzgeschichtensammlung zusammenhat. „The Bazaar of Bad Dreams“ soll in den USA im November 2015 erscheinen.

 

Fazit: Sicher wird „Mr. Mercedes“ unter den Lesern zwiespältige Gefühle auslösen. King hat schon immer polarisiert. Für mich aber ist es ein King, der mit der Zeit geht und den Ängsten unserer Ära spielt. Von daher kann ich nur die vollen fünf Sterne vergeben!

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