Rezension

Sorge für Gerechtigkeit!

Das Haus am Himmelsrand - Bettina Storks

Das Haus am Himmelsrand
von Bettina Storks

Bewertet mit 5 Sternen

Mein Leben lang hatte mir der Tod Angst gemacht. Als mein Vater starb, war ich noch ein Kind. Zwar hatte ich nur dunkle Erinnerungen an diese Zeit, aber die Lücke, die er hinterlassen hatte, klaffte wie eine offene Wunde in unserer Familie, die nicht heilen wollte. Doch dies hier war etwas ganz anderes. Auf einmal fand ich gar nichts Unheimliches am Sterben. Es war vielmehr ein sehr persönlicher Moment zwischen Großpapa und mir. Mama hatte recht gehabt: Was hier geschah, weckte die Urinstinkte der Sippe. Ein erfülltes Leben war im Begriff, aus unserer Mitte zu treten, und mein Großvater hatte die Begleitung seiner Liebsten verdient. Hier ging es nicht um meine Ängste. »Lizzy!« Seine Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Alles ist geschehen, wie du es wolltest. Ich war am Rosshimmel, Großpapa«, versuchte ich ihn zu beruhigen. »Die Gegenstände sind hier bei mir.« Ich deutete auf meine Tasche, sein Blick wanderte in Richtung Boden. »Lizzy«, sagte er noch einmal und in seiner Stimme lag etwas Beschwörendes. Ich hatte ihn noch nie so sprechen gehört. »Lizzy. Du musst …« Langsam strich er mit seiner Hand über die Decke. Sachte ergriff ich sie, legte sie in meine, wo ich sie vorsichtig drückte. Aber seine knochigen Finger antworteten nicht mehr. Seine Augen waren geschlossen. Doch plötzlich seufzte er, holte Luft, die dann langsam aus ihm herausströmte. Noch einmal öffnete er den Mund und mir war, als forme er mit letzter Kraft jedes einzelne Wort, als setze er alles daran, damit ich seinen Auftrag auch wirklich verstünde. »Sorge für Gerechtigkeit! Versprich es!« »Ich verspreche es dir«, antwortete ich, ohne zu überlegen.

Auch wenn sie überlegt hätte, hätte Lizzy ihrem Großvater an dieser Stelle ihr Versprechen gegeben. Schließlich hat das Familienoberhaupt jahrzehntelang Menschen geführt, ein großes Unternehmen genauso wie seine Familie. Was er sagte, wurde getan. Selbst, wenn es einem nicht gefiel.

»Gehorsam und Aufbegehren, der mir vertraute Widerspruch, von Kindesbeinen an verinnerlicht.«

Mit dieser Selbstverständlichkeit hatte Lizzy auch die erste Anordnung ihres Großvaters ausgeführt. Den geheimen Inhalt eines alten Sekretärs an sich zu nehmen – und darüber mit keinem Menschen zu reden. Der Inhalt und das gegebene Versprechen werden Lizzy Rätsel aufgeben, ihre Recherchen werden sie weit in der Zeit zurückführen. Und schon in kurzer Zeit alles erschüttern, was sie für gesichert glaubte.

 

Dieses Buch war mal wieder ein absoluter Glücksgriff für mich! Es hat mich so gefesselt, dass ich es gar nicht aus der Hand legen mochte und – wie bei einem Krimi – miträtselte, was denn nun wie genau wo und durch wen geschehen ist.

 

Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen. In der Gegenwart verfolgen wir Lizzy bei ihren Recherchen und in ihrem privaten Umfeld. Dazwischen gibt es immer wieder Kapitel, die uns in die Vergangenheit entführen. In eine dunkle, deutsche Vergangenheit…

Zum Arbeitszimmer war kein Durchkommen. Im Salon wurde gerade ein Rednerpult wie im Auditorium Maximum aufgebaut. Aber in der berühmten Universitätsstadt mit dem Schriftzug »Die Wahrheit wird euch frei machen« über dem Hauptgebäude gehörten die Zeiten der Vorlesungen renommierter Wissenschaftler verschiedenster Fakultäten und Standpunkte längst der Vergangenheit an. Es gab nur noch einen Ton, eine Stimme, eine Rede.

Die Gestapo bewachte die Türen, die vom Flur aus in die einzelnen Zimmer führten. Schließlich schritt der Beamte im Salon nach vorne, klopfte mit einem Holzhammer auf das Pult und rief:

»Ruhe! Ruhe! Wir beginnen jetzt mit der Versteigerung des Hausrats, Goethestraße 12. Zum Verkauf stehen Mobiliar und dessen Inhalt.«

Wie in einem Puzzle werden Stückchen für Stückchen neue Informationen bekannt. Der Leser muss genau wie Lizzy versuchen, daraus ein Ganzes zusammenzusetzen. Nur dass der Leser den Vorteil hat, nicht persönlich betroffen zu sein ;-) Lizzys Welt hingegen fällt ebenfalls Stückchen für Stückchen auseinander.

 

Wie mag das sein, wenn man sich ein Leben lang glücklich und gesichert in einer Familie gefühlt hat und plötzlich befürchten muss, dass Menschen, die man kannte und liebte, denen man vertraute, schwere Schuld auf sich geladen haben?

Wie mag das sein, wenn einem plötzlich der Verdacht kommt, dass der Wohlstand, in den man hineingeboren wurde, auf dem Rücken und zulasten anderer Menschen entstanden ist?

 

Lizzy hat Angst. Große Angst, vor dem, was sie möglicherweise entdeckt. Und vor den Konsequenzen, die ihre Suche für sie selbst haben wird. Als sie beginnt, Fragen zu stellen, schlägt ihr eine Welle von Ablehnung und Misstrauen entgegen. Dazu steckt auch noch ihre Beziehung in einer schweren Krise und sie fürchtet, ihre kleine Tochter zu vernachlässigen. Wird sie das überhaupt durchhalten?

»Du glaubst immer noch daran, dass du die Welt am nächsten Morgen genauso vorfindest, wie du sie am Abend vor dem Einschlafen verlassen hast.«

 

Es geht um große Themen in diesem Buch. Es geht um die Vergangenheit, um die Naziherrschaft, die Judenverfolgung, die Arisierung. Und es geht um Werte wie Verantwortung, Ehrlichkeit, Liebe und Mut.

»Eine lange Geschichte über Menschen, die überzeugt waren, und welche, die überzeugt wurden.«

So erschütternd die Auflösung auch war - den Schluss fand ich einfach großartig, versöhnlich und Mut machend.

 

Fazit: Ganz großes Kino! Hier wird eine Familiengeschichte zu einem Pageturner. Sollte man sich nicht entgehen lassen.

 

»Manchmal, mein Kind, begibt man sich auf eine Reise mit einem klaren Ziel vor Augen. Und man kämpft, strauchelt und tut, was man kann. Dann sieht man zurück und findet den Ausgangspunkt nicht mehr. Vielleicht hat man auch etwas ganz anderes erreicht, als man ursprünglich geplant hat.«