Rezension

... und endlich die Freiheit?

Raum - Emma Donoghue

Raum
von Emma Donoghue

Bewertet mit 5 Sternen

Eine Aussage über „Raum“ zu machen, heißt, über ein Buch zu reden, das den Rahmen aller Bücher sprengt, die ich je gelesen habe. Es dreht die Welt auf den Kopf und zwingt, Selbstverständlichkeiten zu überdenken und geläufige Wörter wie Freiheit und Selbstbestimmung umfassender zu definieren.
Was braucht ein Säugling, um zu einem fröhlichen, aufgeweckten Kind heranzuwachsen? Offenbar nicht mehr als eine phantasie- und liebevolle Mutter und 12 Quadratmeter Platz. Jack hat nie frische Luft geatmet, nie die Sonne gespürt oder den Mond am Himmel gesehen; dass es sie gibt, weiß er durch das Fernsehen, das ihn über eine fiktive Welt namens „Draußen“ unterrichtet. Andere Menschen, Natur, Technik sind für ihn ebenso real wie die Zeichentrickfiguren seiner Lieblingsserie. Die einzige Gefahr, die er kennt, heißt Nic; aber bevor dieser abends kommt, um die Mutter zu vergewaltigen, versteckt sie Jack im Schrank, wo er schläft.

Erst als die Mutter dem inzwischen 5jährigen klarzumachen versucht, dass „Draußen“ tatsächlich existiert, prallt die Erfahrungswelt des Lesers auf die Jacks, denn der Wissende ist doch der Leser. Oder nicht? – Ich stelle mir vor, uns würde jemand versichern, Hänsel und Gretels Hexe, Schneewittchen und Rumpelstilzchen wohnten tatsächlich im nahen Wald, und würde uns zwingen, es zu glauben. So fühlt sich Jack.
Dass er der Mutter glaubt, verdankt sie nur der innigen und vertrauensvollen Beziehung zu ihrem Sohn, den sie nie belogen oder hintergangen hat. Was danach folgt, ist so unglaublich, so atemberaubend spannend und temporeich, dass jeder Thrillerautor neidisch werden müsste.

Doch bedeutet Befreiung gleichzeitig Freiheit? Für Jack ist „Draußen“ voller Gefahren: Menschen – er kannte bisher nur zwei, Essen – bisher kannte er nur lagerfähige Nahrungsmittel, die Nic brachte, Treppensteigen, Schuhe, Autos, Fenster, Türklinken, Geld, usw. – Jack will in „Raum“ zurück. 
Auch die Mutter muss erfahren, dass Selbstbestimmung erst einmal eine Illusion bleibt, denn alle scheinen etwas von ihr zu wollen, sie unter Druck zu setzen, angefangen vom Psychologen über die Justiz, Presse bis zur Familie und Jacks Forderung nach weiterer 24-Stunden-Betreuung. Denn wie soll jemand, dessen Wille sieben Jahre lang täglich gebrochen wurde, auf einmal wieder Grenzen ziehen können und unterscheiden, was wirklich der eigene Wille ist und wo ihm einsuggeriert wird, was der eigene Wille zu sein hat? Hervorragend schafft es die Autorin, dicht bei ihrem Protagonisten Jack zu bleiben, den Leser quasi in dessen Kopf mitzunehmen und zugleich das Verständnis für die Hilflosigkeit der Umwelt zu wecken. Nicht umsonst ist derjenige, der Jack am nächsten kommt, der Stief-Großvater, der bis dato Jacks Mutter nicht kannte und demzufolge keine emotionale Bindung zu der Frau, die sie früher war, aufgebaut hatte.
Der Selbstmordversuch der Mutter erscheint auf tragische Weise folgerichtig: Nic hat sie zwar am Leben gelassen, aber die Frau, die sie früher war, ist tot, und vorbei ist auch das frühere Leben, denn es lässt sich kein Anknüpfungspunkt finden. Dennoch: Obwohl für Jack eine Tragödie, kann ihm eigentlich nichts Besseres für seine weitere Entwicklung passieren. Nur unter dem Zwang der Umstände ist ihm eine erste Abnabelung möglich. Letztlich ist er es, der seine Mutter und sich selbst dazu drängt, die Jahre der Gefangenschaft und Isolation loszulassen und Abschied von „Raum“ zu nehmen, ohne den ein Neubeginn unmöglich wäre.

Zweierlei befürchtete ich, als ich den Roman zu Hand nahm: Die Darstellung der sexuellen Gewalt und Sentimentalität. Aber von beidem keine Spur. Weil Jack nicht in der Lage war, eine Distanz zu sich selbst aufzubauen, schildert er seine Gefühle, Gedanken, Handlungen und die der anderen ungefiltert und echt. Es ist unmöglich, sich ihm zu entziehen; er trifft ins Herz. Die Autorin hat dazu eine eigene Sprache entwickelt, grammatisch falsch, aber nicht kindisch, die nur den Wortschatz verwendet, den Jack durch Gegenstände im Verlies und durch Fernsehen lernen kann und der später seine Entwicklung spiegelt. Ein großes Kompliment an Armin Gontermann, der für die Übersetzung ein Jack-Deutsch kreierte. 

Im Allgemeinen bin ich skeptisch, und es reizt mich zum Widerspruch, wenn ein Buch nur in Superlativen rezensiert und mit Lobeshymnen überhäuft wird. Doch bei diesem Buch stimme ich mit ein.

Kommentare

gaby2707 kommentierte am 04. August 2015 um 16:25

Von dem Buch war ich auch restlos begeistert.