Rezension

Gelungene, spannende Fortsetzung - Logiklöcher leider weiterhin vorhanden

Scythe - Der Zorn der Gerechten - Neal Shusterman

Scythe - Der Zorn der Gerechten
von Neal Shusterman

~ Der zweite Teil der „Scythe“-Reihe ist mindestens so gut wie der Vorgänger. Neal Shusterman überzeugt wieder mit seinem angenehmen, flüssigen Schreibstil, den tiefgründigen Themen, den großteils gut ausgearbeiteten Figuren und so mancher unerwarteten Wendung. Auch was die Themen „Vielfalt“ und „moderne Rollenbilder“ betrifft, hat der Autor hier ein tolles Jugendbuch geschaffen, das perfekt für die junge Zielgruppe geeignet ist. Gestört haben mich (wieder) die großen Logiklöcher in der erdachten Welt und auch bei manchen Nebenfiguren, den Protagonisten und ihrer Liebesgeschichte ist noch Luft nach oben. ~

* Achtung: Es handelt sich hier um den 2. Band einer Reihe! *

Inhalt

Der ehemalige Lehrling Citra Terranova ist zu Scythe Anastasia geworden und ihre Aufgabe ist es nun, Menschenleben zu nehmen. Für ihre besonders sanfte, mitfühlende und selbstbestimmte Nachlesemethode wird Citra zugleich bewundert und gehasst. Vor allem den Scythe der neuen Ordnung ist sie ein Dorn im Auge. Diese streben nach immer unbegrenzterer Macht ohne einengende Regeln. Citra Terranova glaubt jedoch an die Prinzipien der alten Ordnung und versucht, dem Verfall der Moral entgegenzuwirken. Und dann gibt es noch Rowan, der seine ganz eigene Weise gefunden hat, gegen die Korruption im System anzukämpfen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #2 der „Scythe“-Reihe
Andere Bände:
#1: Scythe. Die Hüter des Todes.
#3: Noch kein Titel, wird voraussichtlich 2019 erscheinen.
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus vielen verschiedenen (männlichen und weiblichen) Perspektiven
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: +/- Es werden keine Tiere gequält. Jedoch werden nach wie vor Tiere getötet, um sie zu essen, auch einen unpassenden Vergleich mit einem Hummer, der gekocht wird, gibt es leider.

Warum dieses Buch?

Auch wenn für mich der erste Band durchaus nicht perfekt war, hat er mir dennoch immer noch wirklich gut gefallen. Nach diesem Ende musste ich natürlich unbedingt wissen, wie die Geschichte weitergeht.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Wie auch beim ersten Band gelingt der Einstieg fantastisch. Sofort ist man wieder in der Geschichte und fiebert mit Citra, Rowan und den anderen Figuren mit. Einen wichtigen Tipp habe ich jedoch für jene, bei denen die Lektüre des ersten Bandes schon länger her ist: Am besten vor dem Lesen zumindest noch einmal überfliegen, damit die Details wieder frisch im Gedächtnis sind.

„Ich bin das Kind, das zum Elternteil geworden ist. Das Geschöpf, das anstrebt, zum Schöpfer zu werden.“ Der Thunderhead, Ebook, Position 39

Aufbau (+)

Auch dieses Mal besitzt das Buch wieder eine gut durchdachte Struktur: Am Ende jedes Kapitels gibt der Thunderhead, die gutmütige künstliche Intelligenz, die das Land führt, ihre Gedanken zum Besten. Hier erhalten die LeserInnen spannende Einblicke und interessante Hintergrundinformationen zur erfundenen Welt. Dies artet allerdings glücklicherweise niemals in Infodumping aus.

Wie beim ersten Band werden die Kapitel wieder aus verschiedenen Perspektiven erzählt, dieses Mal werden die Wechsel jedoch häufiger und die Figuren nehmen zu. Manchen könnten das schon zu viele verschiedene Schauplätze sein - ich hatte damit allerdings kein Problem, sondern mochte diese Erzählweise.

Inhalt, Themen & Botschaften (+)

Auch dieses Mal konnte mich der Autor mit seinen frischen Ideen überzeugen. Erneut dringt er mit seinem Roman in tiefgründige Gebiete vor und veranlasst seine (jugendlichen) LeserInnen immer wieder dazu, nachzudenken und sich Antworten auf moralisch sehr schwierige Fragen zu überlegen. Wie sieht ein gnädiger Tod aus? Gibt es den überhaupt? Darf man seinen Beruf mögen, auch wenn er darin besteht, andere zu töten? Dabei hält uns der Autor immer wieder den Spiegel vor, egal ob es um Umweltthemen, Macht, Arroganz oder den Glauben geht. Seine erfundene Religion der „Tonisten“, die auf die „Große Resonanz“ warten und auf der Suche nach einer riesigen Stimmgabel sind, löst im ersten Moment vielleicht Erheiterung aus, führt uns aber bei genauerem Nachdenken vor Augen, dass es auch für unseren Glauben keinerlei Beweise gibt. Vielleicht finden Menschen, die damit noch nie in Kontakt gekommen sind, ihn ebenso wunderlich.

„Sie sind zur Nachlese ausgewählt worden“, sagte Citra noch einmal ruhig, ohne Tadel oder bösen Willen, sondern mitfühlend. „Ich gebe Ihnen einen Monat, Ihr Leben in Ordnung zu bringen und sich zu verabschieden. Einen Monat, um Vollendung zu finden. Dann sprechen wir uns wieder, und Sie werden mir sagen, wie Sie sterben möchten.“ Ebook, Position 320

„Es ist das Leid jedes Kindes, über eine Tiefe zu verfügen, die seine Eltern kaum erahnen können.“ Der Thunderhead, Ebook, Position 159

Logiklöcher (-!)

Auch wenn der Autor es in diesem Band schafft, die Welt besser auszubauen und greifbarer zu machen, werden die Logiklöcher, die mir schon im ersten Band etwas die Lektüre vermiest haben, auch hier nicht ausgemerzt. Noch immer stellt sich mir die Frage, warum die Tötungsmethode und das Alter der Nachzulesenden von den Scythe auf eigene Faust bestimmt werden dürfen. Dies führt meiner Meinung nach zu unfassbaren Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die es in einer angeblich so perfekten Welt keinesfalls geben dürfte. Auch die Tatsache, dass zum Beispiel lieber Truthähne gezüchtet werden, denen ein glückliches virtuelles Leben vorgegaukelt wird, anstatt sich vegan zu ernähren, stößt bei mir auf Verwunderung und Unverständnis. Unsere Gesellschaft entwickelt sich jetzt schon immer mehr in Richtung pflanzliche Ernährung (und In-vitro-Fleisch), da finde ich es absolut unglaubwürdig, dass es in einer perfekten Zukunft noch „Nutztiere“ geben soll. Die Erklärungsversuche des Autors diesbezüglich wirken oft konstruiert und konnten mich leider überhaupt nicht überzeugen. Um an diesem Buch wirklich Spaß zu haben, muss man diese Logiklöcher ausblenden – das gelang mir erneut über weite Strecken sehr gut, jedoch leider nicht immer.

Schreibstil (♥)

Erneut ist der Schreibstil eine der größten Stärken des Buches: Er eignet sich wieder perfekt auch für WenigleserInnen und Jugendliche, weil er seinen tiefgründigen Inhalt durch einfache Worte vermittelt. Die Sprache von Neal Shusterman ist leicht verständlich, dennoch nicht oberflächlich und enthält immer wieder gelungene Beobachtungen und weise Formulierungen. Es ist unglaublich, wie schnell und flüssig sich das Buch wieder lesen lässt. Negativ aufgefallen sind mir lediglich vereinzelte, zu sehr an die englische Originalversion angelehnte Formulierungen. Eine weitere Stärke: Die Macht der Sprache wird beim Lesen eindrucksvoll deutlich: Schon immer wurden von politischen Systemen und anderen Gruppierungen Euphemismen für unschöne oder sogar schreckliche Dinge erfunden. So wird bei den „Scythe“ „nachgelesen“, nicht getötet.

„Im gleichen Moment stoben alle anderen Leute um sie herum auseinander wie eine Herde Gazellen, nachdem ein Löwe ein Tier gerissen hatte.“ Ebook, Position 308

Protagonisten, Figuren & die Liebe (+/-)

Die Einteilung in Haupt- und Nebenfiguren fällt dieses Mal schwer, weil viele Figuren größere und kleinere Rollen übernehmen. Dieses Mal habe ich die Sprache glücklicherweise als weniger distanziert wahrgenommen und konnte deshalb besser mit den Figuren mitfühlen. Besonders gut gefallen hat mir die liebevolle Figurenzeichnung vieler neuer und altbekannter (Neben)Figuren. Greyson Tolliver ist in diesem Band zu meinem Lieblingscharakter geworden, den ich absolut ins Herz geschlossen habe. Aber auch so mancher Bösewicht zeigt unerwartete Tiefe, so kommt es zu manch berührender und tragischer Situation (für jene, die das Buch schon gelesen haben: Tyger und seine Trainerin). Einige Figuren bleiben dennoch leider blass.

Auch die Hauptfiguren nahm ich als etwas lebendiger und dreidimensionaler wahr – dennoch ist hier noch (teilweise viel) Luft nach oben. Dasselbe gilt für die Liebesgeschichte, die mich immerhin auch ein bisschen mehr überzeugen konnte.

Spannung & Atmosphäre (+)

Für eines ist die „Scythe“-Reihe für mich bereits ein Garant: Langweilig wird es nie! Auch hier baut der Autor bereits im ersten Viertel des Buches Spannung auf und lässt diese bis zum Ende des Buches auch niemals wirklich abreißen. Wer unerwartete Wendungen, Enthüllungen und Cliffhanger liebt, wird auch Band 2 wieder sehr mögen. Toll!

Geschlechterrollen & Vielfalt (♥)

Hier haben wir es mit einem Autor zu tun, der absolut sensibilisiert für die Themen „Gender-Stereotypen“ und „Vielfalt“ zu sein scheint. Es gibt hell- und dunkelhäutige Personen, außerdem: viele starke, gut geschriebene weibliche Figuren auf der Seite der Guten und der Bösen. Frauen sind hier nicht nur Deko, sie sind ebenso komplex dargestellt wie die Männer, ebenso mächtig und werden ebenso respektiert. Für mich ist zudem immer ein entscheidender Punkt, ob Männer weinen dürfen, ohne dass es als lächerlich abgestempelt wird. Und ja: Sie dürfen hier genauso ihre Gefühle zeigen wie Frauen. Ein großes Lob an dieser Stelle an den Autor! Wer Bücher mit einem modernen Frauen- und Männerbild sucht, ist hier goldrichtig!

Mein Fazit

Der zweite Teil der „Scythe“-Reihe ist mindestens so gut wie der Vorgänger. Neal Shusterman überzeugt wieder mit seinem angenehmen, flüssigen Schreibstil, den tiefgründigen Themen, den großteils gut ausgearbeiteten Figuren und so mancher unerwarteten Wendung. Auch was die Themen „Vielfalt“ und „moderne Rollenbilder“ betrifft, hat der Autor hier ein tolles Jugendbuch geschaffen, das perfekt für die junge Zielgruppe geeignet ist. Gestört haben mich (wieder) die großen Logiklöcher in der erdachten Welt und auch bei den Protagonisten und ihrer Liebesgeschichte ist noch Luft nach oben.

Und jetzt heißt es warten – und zwar auf den dritten Teil, der für mich bereits jetzt Pflichtlektüre ist!

Empfehlung: Für Fans des ersten Teils ein Muss! Der erste Band sollte unbedingt zuerst gelesen werden.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne
Figuren: 4 Sterne
Protagonisten: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 3 Sterne
Geschlechterrollen & Vielfalt: ♥
Tiefgründig, regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 zufriedene Lilien!