Rezension

Das falsche Narrativ

Lügen über meine Mutter -

Lügen über meine Mutter
von Daniela Dröscher

Bewertet mit 2 Sternen

Die 80er Jahre bilden die Kulisse dieses Romans. Wer diese Zeit kennt, wird sich zurückversetzt fühlen: Dallas, Boris Becker, Tennis als neuer Volkssport, Aerobics, Sonnenstudio und Trennkost-Diäten. Die Erzählerin ist die 6jährige Ela, die uns die familiären Ereignisse der Jahre von 1983 und 1986 aus ihrer Sicht schildert. Nach jedem Kapitel gibt es ein bis zwei Seiten aus der Sicht der erwachsenen Erzählerin – die könnte die Autorin sein. Hier erklärt sie, stellt ihrer Mutter Fragen, wendet soziologische Theorien auf ihre Familie an und philosophiert auf ziemlich flache Art. Manche dieser Kapitel hatten aus meiner Sicht logische Fehler. Der Mehrwert für den Roman hält sich in Grenzen.

Das Feuilleton liest den Roman als eine Geschichte über Klassismus. Aus meiner Sicht geht es hier keineswegs um das Unbehagen des Aufsteigers in der ungewohnten Höhe. Sondern um übelste patriarchalische Gewalt, um Übergriffigkeit, Ausbeutung, Besitzdenken und Bodyshaming – ein Begriff, den es zu der Zeit noch nicht gab. Zu Beginn des Romans musste ich mich mehrmals rückversichern, dass die Geschichte Anfang der 80er Jahre spielt – ich wurde das Gefühl nicht los, mich in den 50ern zu befinden. Der Roman schien mir wie aus der Zeit gefallen.

Sprachlich fand ich ihn eher mittelmäßig, manche Satzkonstrukte wirken unbeholfen. Die Autorin verwendet in ihrer Erzählung viele Phrasen der damaligen Sprache, in Kursivschrift abgehoben, bei denen sich manche/r sicher heute noch ertappt. „Das Herz schlug bis zum Hals. Ihm platzte der Kragen. Sie biss die Zähne zusammen. Rank und schlank.“  Zur Entlastung der Autorin gibt es auch hierzu ein Erklärkapitel – mich hat diese Sprache dennoch gestört.

Was mich sehr bald irritiert hat, ist das völlige Fehlen von Ambivalenz der Figuren und ein Overkill an Übergriffen seitens des Vaters. Ich erspare mir eine Aufzählung der väterlichen Hasstaten und psychischen Sadismen, die mich auf den ersten 100 Seiten schier fassungslos gemacht haben. Das Einzige, was er auslässt, ist physische Gewalt. Von der Mutter erfolgt nur sporadisch Gegenwehr, im Gegenteil: Stetes Bemühen um das Wohlwollen des Ehemanns. Ihre zweite Schwangerschaft macht alle beruflichen Träume zunichte. Und ich bin noch irritierter: Dass das Sexualleben darniederliegt, wenn ein Paar nicht harmoniert, ist eine Binsenweisheit, wie also zum Teufel…?!  Und immer so weiter, es hört nicht auf - eine Schändlichkeit folgt der anderen. Ab etwa der Mitte des Romans hatte ich keine Energie mehr, mich zu empören. Was hat um Himmels Willen die Jury dazu bewogen, dieses Buch auf die Longlist 2022 zu setzen?

Selbst oder gerade wenn wir es hier mit Fiktion, nicht mit Fakten, zu tun haben, stellt sich mir die Frage nach dem Ziel der Autorin. Mir ist das alles zu klischeehaft. Der Vater das exemplarische männliche A...loch. Die Mutter das exemplarische weibliche Opfer, das aber auch wirklich alles erdulden muss, selbstverständlich schön (als sie noch schlank war) und ständig bestrebt, zu "retten, pflegen, heilen, versorgen". Eine Personifizierung des unerreichbaren deutschen Mutterideals, der Selbstverlust ist darin einkalkuliert. Eine weitere Idealisierung erfolgt am Ende durch die Enthüllung der ultimativen guten Tat schlechthin. Das war mir endgültig zu viel; ich habe mich nur noch an den Kopf gefasst.

Wird das irgendwann relativiert? Mitnichten. Am Ende die Huldigung des Opfermutes. „Meine Mutter kann stolz auf sich sein. […] sie hat ihr großes Herz nie verloren.“ Für die Autorin ist ihre Mutter „the heroine of my life“. Das ist auf der persönlichen Ebene sicherlich rührend und nachvollziehbar.

Nur: Was sollen die jungen Frauen von heute mit dieser Geschichte, diesem Fazit anfangen? Wir sind einen langen, steinigen Weg gekommen, ja, das müssen sie wissen, damit sie verstehen, was es zu verlieren gibt. Aber jetzt brauchen wir Narrative, die mit dem falschen Heldinnentum aufräumen. Nicht solche, die es im Nachgang noch feiern.

Von mir leider keine Leseempfehlung.