Rezension

Der Lemming zwischen Würstelstand und World Wide Web.

Im Netz des Lemming - Stefan Slupetzky

Im Netz des Lemming
von Stefan Slupetzky

Bewertet mit 5 Sternen

Er kann es einfach der Slupetzky. Leopold "Lemming" Wallisch wird Zeuge eines schrecklichen Suizids: Ein Junge wirft sich von einer Brücke - direkt in eine heranrollende U-Bahn. Was hat den kleinen Mario in den Tod getrieben? Der Lemming ist schon ein ganz besonderer Fall. Und man kann ihm nur wünschen, dass er nicht doch irgendwann final fällt, denn plötzlich sind sein Foto und sein Name überall. Für Medien und virtuelle Öffentlichkeit ist die Sache klar, der Mann der zuletzt mit Mario gesprochen hat, muss Schuld haben an seinem Selbstmord. Ein tragischer Suizid und ein Nachtwächter in Bedrängnis. Der Lemming versteht sie nicht mehr, die Welt. Und noch weniger versteht er das Kauderwelsch aus Internet-Sprache und Englisch, das sein Sohn Ben mit seinem Freund Mario spricht. Als der Lemming sich mit eben diesem Mario durch Zufall eine Straßenbahn teilt, passiert das Unfassbare: Auf Marios Handy-Display erscheint eine offenbar schockierende Nachricht, der Bub rennt unvermittelt aus der Bahn und springt von einer Brücke in den Tod.
Der Lemming ist fassungslos, er und sein Freund Chefinspektor Polivka machen sich auf die Suche nach der Wahrheit. Schon bald laufen sie in Gefahr, sich in verschiedensten Netzen zu verfangen: Im World Wide Web, in den Verstrickungen korrupter Politiker und in den tückischen Schlingen, die die Boulevardpresse legt .........
Slupetzky legt den Finger in die Wunden der Gesellschaft. Jeder Satz passt in diesem Kriminalroman, jedes Wort trifft – Stefan Slupetzky ist ein Sprachkünstler, der es versteht, mit viel Feinsinn Bilder entstehen zu lassen, die sich einprägen. Nichts ist schwarzweiß, jeder hat eine Geschichte, stets hat es einen Grund, warum einer da ist, wo er heute ist. Slupetzky schaut ganz genau hin, wenn er seine Figuren zeichnet, und so manche wird einem bekannt vorkommen. Da ist der kleine Bub, der es unter den Schulkollegen so schwer hat, dass ihn eine Aura der Traurigkeit umgibt, da ist der frühere Neonazi, der sich für seine Tätowierungen schämt. Da ist jener Lehrer, der einmal Idealist gewesen ist, bevor ihm die Realität den Antrieb genommen hat, und der ehemalige Polizist, der jetzt nachts im Tierpark arbeitet und erst mehrere rauschhafte Nächte braucht, bevor er seinem Freund Polivka das Du anbieten kann. Leopold „Lemming“ Wallisch ist ein stiller, feinfühliger Charakter mit trockenem Humor und Gespür für seine Mitmenschen und deren Realitäten.
Grausig-komisch, witzig, skurril, abgründig, melancholisch – eine süchtig machende Wiener Mischung, ein Krimi, wie ihn nur ein Österreicher schreiben kann. Mit viel Feinsinn und genauem Blick für die Missstände unserer Zeit lässt Stefan Slupetzky seinen Lemming durch die Wiener Nächte wandeln, mit Lust am Wortspiel und in einen Fall, der ebenso spannend wie beklemmend aktuell ist, ohne dabei jemals seine Leichtigkeit zu verlieren. Mit famosen Schnörkeln, fein absurd und schön böse, wo es sein muss. Ein bisschen wie "Brenner" (Wolf Haas) auf Speed. Nur noch vielschichtiger, absurder und fieser. Ein herrlich spannend-witzig-schräges Lesevergnügen aus Wien. Spannend-schräge Krimikost, dieser Wien-Krimi ist wie Metropolenliteratur in Zeitlupe mit Alltagskomik. Ein Buch, das man nicht weglegen kann. Bis zur letzten Seite. Sehr zu empfehlen!