Rezension

Die Lebensgeschichte der Mutter

Sie ging nie zurück. Die Geschichte eines Familiendramas - Emma Brockes

Sie ging nie zurück. Die Geschichte eines Familiendramas
von Emma Brockes

Bewertet mit 5 Sternen

 

„Eines Tages erzähle ich dir die Geschichte meines Lebens, da wirst du staunen … „ – mit dieser Äußerung und wenigen Andeutungen ihrer Mutter Paula über deren Kindheit und Jugend in Südafrika muss sich die Autorin Emma Brockes bis ins Erwachsenenalter begnügen. Auch dann kann sie die Familiengeschichte nicht erfahren, weil der Tod der Mutter zuvorkommt. Deshalb beginnt Emma auf eigene Faust, Licht in die Vergangenheit ihrer Familie zu bringen. Eine akribische Recherche in den wenigen Erinnerungsstücken und hinterlassenen persönlichen Dingen der Mutter, in Zeitungsarchiven und Gerichtsprotokollen und vor allem Gespräche mit den zahlreichen Verwandten in Südafrika bringen die leidvolle Vergangenheit der Mutter zu Tage: Die Mutter der 1942 in Südafrika geborenen Pauline, also Emmas Großmutter, starb, als Pauline erst zwei Jahre war. Ihr Vater Jimmy war ein verurteilter Mörder, der erneut heiratete und noch sieben Kinder bekam. Pauline und ihre Halbgeschwister liebten sich. Der Vater jedoch war Alkoholiker, gewalttätig, verging sich inzestuös an Pauline und ihren Schwestern. In einem von ihr angestrengten Gerichtsprozess wurde er freigesprochen, weil seine Ehefrau ihre Aussage revidierte. Bald danach, im Jahr 1960, wandert Paula, wie sie sich fortan nennt, nach England aus, um ein völlig neues Leben zu beginnen. Den Kontakt zu ihren Verwandten hält sie sporadisch über Briefe, Telefonate und zwei Besuche in der Heimat auf. Die Geschwister zerbrechen, werden zu Alkoholikern, führen unglückliche Ehen. Paula findet letztlich ihr Glück mit Mann und der 1974 geborenen, von ihr behüteten Tochter Emma.

 

Das alles schildert die journalistisch sehr bewanderte Autorin in nüchternem, distanziertem, emotionsfreiem Schreibstil. Anders lässt sich vermutlich nicht mit der Tragik der eigenen Familiengeschichte umgehen, will man nicht zerbrechen. Herausgekommen ist ein Buch, das weniger als Roman denn als Biografie einzustufen ist. Nach Art eines Puzzles werden viele einzelne Informationen zusammengesetzt, bis am Ende die schreckliche Wahrheit steht. Das erfolgt nicht chronologisch, sondern in Zeitsprüngen und Wechseln der Örtlichkeiten. Deshalb muss man sich beim Lesen bemühen, den Überblick zu behalten. Erschwerend kommt hinzu, dass sich einige Widersprüche auftun, wie etwa bereits beim Buchtitel – Paula kehrte ja besuchsweise zweimal nach Südafrika zurück. Natürlich lassen sich solche Widersprüche logisch erklären. Die Erinnerungen der Befragten weichen voneinander ab. Sehr informativ ist das eingeflochtene Wissen über die Geschichte Südafrikas, insbesondere die Apartheid. Als auflockernd empfinde ich die eingebrachten Fotos von Emmas Familie, auf denen alle Personen so normal wirken. Am Ende des Buches kann ich nur dasselbe Fazit wie Emmas Tante Fay ziehen, die sagt „Wenn man danebensteht und nichts tut, ist man genauso schlimm wie der, der zuschlägt“. In diesem Sinne ermutigt das Buch zum sich Einmischen in die leider immer noch aktuellen Fälle häuslicher Gewalt.

 

Mir hat das Buch sehr gut gefallen.