Rezension

Ein Buch ohne Seele?

Sie ging nie zurück. Die Geschichte eines Familiendramas - Emma Brockes

Sie ging nie zurück. Die Geschichte eines Familiendramas
von Emma Brockes

Emma erzählt in diesem Buch, so wird zumindest behauptet, die Geschichte ihrer Mutter. Das stimmt nach meinem Empfinden nur bedingt. Ebenso und gleichzeitig erzählt Emma auch ein Stück weit ihre eigene Geschichte und zeigt den Lesern dabei sehr subtil, wie wenig es diese eine Geschichte dieses einen Menschen überhaupt geben kann, vielmehr wird es erst eine Geschichte, wenn sich viele verschiedene Berichte und damit auch verschiedene Sichtweisen von vielen Beteiligten, in diesem Fall einer Familie, zu einem Ganzen verbinden.
„Eines Tages erzähle ich Dir die Geschichte meines Lebens, da wirst Du staunen“.  Dieser Satz ihrer Mutter Paula begleitet Emma durch ihre Kindheit und ihre Jugend und immer weist die Mutter bei Nachfragen auf später hin.  „Wenn Du älter bist“ ist dann eine gern benutzte Floskel und Emma muss sich mit Andeutungen zufrieden geben. Emma weiß nur, dass ihre Mutter mit Ende 20 aus Südafrika nach England gekommen ist, dass sie mit zwei Jahren ihre Mutter verloren hat und der Vater ein zweites Mal heiratete und Paula sieben Geschwister aus dieser zweiten Ehe hat. Um diese Geschwister hat sie sich lange Jahre liebevoll gekümmert, sie aber dann doch irgendwann verlassen.
Kurz vor ihrem absehbaren Tod beginnt Paula ihrer Tochter Emma doch etwas mehr zu erzählen, aber das Große, das Schreckliche, das allerletzte Geheimnis spart sie auch jetzt noch aus. Emma erfährt, dass Paulas Vater und damit ihr eigener Großvater nicht nur vor der Ehe mit Paulas Mutter ein verurteilter Mörder war, sondern auch in seiner zweiten Ehe Gewalt und Missbrauch das Leben der Familie bestimmte. Irgendwann zeigt sie ihn an, doch er wird vor Gericht freigesprochen.
Nach dem Tod der Mutter reist Emma einige Monate später zweimal nach Südafrika und begibt sich auf die Suche. Sie recherchiert in alten Gerichtsakten, sucht nach und nach die Geschwister ihrer Mutter auf, die auch wenig bis gar keinen Kontakt untereinander pflegen. Jede und jeder erzählt Emma eine etwas andere Geschichte, immer geprägt davon, wie weit die Person selbst in die Ereignisse damals involviert war.
Deutliche Worte liefern nur die Gerichtsakten, die Emma Seite für Seite liest und erst jetzt offenbaren sich das Verhalten und die Taten von Paulas Vaters in allen Einzelheiten. Trotzdem bleiben gerade diese Passagen des Buches seltsam leblos. Das mag daran liegen, dass Emma die Recherchen zuerst mit ihrem beruflichen Hintergrund, sie ist auch im realen Leben Journalistin, betreibt.  Dies ist dem Buch zum Einen förderlich, weil nichts unentdeckt bleibt, auf der anderen Seite aber  scheint dies zu einer Distanziertheit von den Geschehnissen zu führen.
Anders kann ich mir nicht erklären, dass man als Leser von diesem Stoff nicht wirklich gepackt wird. Man liest die grausamen Details, wie ein Mann systematisch seine Kinder zerstört und das kann nicht nur eine Folge von Alkohol sein wie der Vater auf geschickte Weise in seiner Verteidigung vor Gericht immer wieder behauptet. Überhaupt fließt hier sehr viel Alkohol in allen Familienzweigen und Generationen, dass es einen an manchen Stellen geradezu ermüdet.

Mein Fazit: Ich hatte große Erwartungen, die sich nicht voll erfüllt haben. Aber vielleicht ist es von der Autorin auch so gewollt, dass man eine echte „Anteilnahme“ an diesem Stoff nicht entwickeln kann. Es wäre vielleicht interessant zu lesen, wie Betroffene auf dieses Buch reagieren. Trotzdem eine Leseempfehlung. Irgendwie berührt einen das Buch doch.