Rezension

Eine Urgewalt

Ein Geist in der Kehle
von Doireann Ní Ghríofa

Bewertet mit 5 Sternen

"Als wir uns zum ersten Mal begegneten, war ich ein Kind und sie schon seit Jahrhunderten tot" (S. 19).

Zwei Schriftstellerinnen. Die eine schrieb im 18. Jahrhundert als irische Adlige ein gälisches Klagelied. Das Caoineadh, für ihren ermordeten Mann, das Gedicht wurde zum Mythos. Die andere schreibt dieses Buch. Und erzählt autofiktional von der Beziehung zu dieser Frau, die schon seit Jahrhunderten tot ist. In einer Zeit, in der sich alles um die Bedürfnisse ihrer Kinder dreht, ist das Caoineadh ihr konkretester Halt. Während sie für fremde Kinder Milch abpumpt, liest sie zunächst das Gedicht wieder und wieder und schließlich auch alles, was sie über die Autorin herausfinden kann. Zwischen Einkaufslisten, Windeln wickeln, Ostereiern und Stromrechnungen, zwischen Glück und Erschöpfung, entwickelt sie eine Obsession für das Leben der Autorin und den Parallelen zu ihrem eigenen.

Es geht um den Instinkt zu sorgen, eine Kraft, die dorthin zieht, tief verankert. Es geht um das Sich-Verausgaben für andere, etwas von sich geben, spenden. Es geht um Liebe und den Umgang mit tiefer Trauer. Ein wenig zu sehr ging es mir um "weibliche Arbeit" - Wertschätzung für die Arbeit, die Frauen jahrhundertelang unter dem Radar geleistet haben YES, aber macht das diese Arbeit "weiblich"? Dennoch, es geht um Leben, die miteinander verbunden sind, um Situationen, die sich über die Jahrhunderte hinweg entsprechen, um Wechselseitigkeit, um Echos der Vergangenheit und der Zukunft. Dieses Buch ist intensiv und lyrisch und von einer unglaublichen Kraft. Es ist Essay-Like ohne dass man es beim Lesen merkt. Kunstvoll, wie erdachte Szenen aus der Vergangenheit sich sprachlich in der Vorstellungskraft der Autorin verorten. Wie sie sich zwischen die Zeiten schreibt. Es ist gleichzeitig äußert klug konzipiert und von tiefer Intuition geprägt, ein absolut neues, andersartiges und urgewaltiges Leseerlebnis, das mich stark beeindruckt hat.