Rezension

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Gestochen scharfes Bild einer Frau und einer Epoche

Alles, was ich bin - Anna Funder

Alles, was ich bin
von Anna Funder

Bewertet mit 5 Sternen

Der Roman der Australierin Anna Funder spielt im Nachkriegs-Deutschland des Ersten Weltkriegs. Protagonistinnen und Protagonisten ihres Plots stellt eine Gruppe junger Intellektueller, historisch belegter und teilweise namentlich verfremdeter Figuren, dar, die aktiv die sozialistische Revolution der USDAP als Brücke zwischen KPD und SPD auf dem Weg zu einem Deutschland ihrer Ideologien und Programme gestalten wollen.

Vor dem Hintergrund der wilden Zwanzigerjahre in Berlin, die besonders die Lebensumstände der jungen Menschen aus wohlhabendem Hause - sprich Luxus wird gelebt, Vergnügungen werden sich gegönnt, es wird ganz nach Belieben und den eigenen Bedürfnissen gelebt und geliebt – charakterisiert, entwickelt sich das Leben der eigentlichen Hauptperson Dr. Dora Fabian aus den Erinnerungen ihrer Cousine Ruth Becker (zwischenzeitlich Wesemann), ebenfalls promovierte Philologin, und dem Schriftsteller und sozialistischen Revolutionär und ihrem Geliebten Ernst Toller heraus.
 Sowohl Ruth Becker als auch Ernst Toller treten in sich abwechselnden Kapiteln als Ich-Erzählerin bzw. Ich-Erzähler auf. Im ersten Teil des Romans begegnen Leserin und Leser Ruth im Australien des 21. Jahrhunderts, als alte Frau, Emigrantin, pensionierte Lehrerin, schwer krank, die Gegenwart vergessend, dafür aber die Vergangenheit, und damit ihre Cousine, das mit ihr und den anderen aus der Clique geteilte Leben, gestochen scharf und deutlich in ihrer Erinnerung. Ihr gegenwärtiges Sein, den Verfall ihres Körpers, sieht Ruth klar und realistisch, sie beschreibt sich und ihre Umstände schonungslos. Vielleicht lässt gerade dieser Zustand zu, zusammen mit den starken Schmerzmitteln die sie bekommt, dass sie auch die Vergangenheit ehrlich und ungeschönt betrachten kann, damit abschließen kann. Ernst Toller dagegen tritt als 46-Jähriger im US-amerikanischen Exil kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Erscheinung. Von seiner Frau Christiane, einer um 23 Jahre jüngeren deutschen Schauspielerin gerade verlassen, haust er in einem Hotelzimmer mit Sicht auf den Central Park in New York. Dort diktiert er seiner Sekretärin Clara, ebenfalls einer deutschen Emigrantin, Ergänzungen zu seiner Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland“, die sich ausschließlich um Dora Fabian drehen. Er möchte sie scheinbar wieder lebendig machen in dem er sie endlich in seinem Werk unterbringt, als Teil von ihm selbst. Wie er behauptet habe er sich zunächst davor gescheut, weil er sich nicht in der Lage sah den vielen Facetten ihrer Person, ihrer Persönlichkeit, durch seine Worte gerecht zu werden. Schließlich kommt, nach all den Jahrzehnten, die ergänzte Biographie bei Ruth an, die sich fortan mit den Ergänzungen der Geschichte durch ihr eigenes Erleben, wenn auch nicht schriftlich so aber im Präsens und nicht in der Vergangenheit erzählt wie Toller, beschäftigt. Man erfährt, wie Ruth als 11-Jährige zur Genesung bei Tante, Onkel und Dora in Berlin unterkommt, näher an den Ärzten in der Großstadt als Zuhause in der elterlichen Villa im heutigen Polen, wie sie ihre Liebe zur Fotografie entdeckt und ihre Verbundenheit mit der 5 Jahre älteren, intelligenten und freigeistlich aufwachsenden Cousine. Während Doras Studium lernt Ruth ihren späteren Ehemann Hans Wesemann kennen, einen Journalisten und ebenfalls glühenden Sozialisten. Auch auf Ernst Toller, den langjährigen Geliebten Doras, Doras Mann Walter den diese jedoch recht schnell aufgibt, Berthold Jacob und weitere Verfechter des Sozialismus trifft sie über Dora. Selbst jedoch bleibt Ruth im Hintergrund, als Handlangerin, wie sie später meint, während die anderen durch Reden, Artikel und Sabotageaktionen in die Öffentlichkeit treten. Schließlich müssen die Freunde erkennen, dass Adolf Hitler mit seiner Ideologie über die ihre gesiegt hat. Machtergreifung und Reichstagsbrand erlebt die Clique in Berlin mit.
 Der zweite Teil des Romans beschäftigt sich mit dem Wirken der sozialistischen Gruppe im Exil. Nachdem sie die Gefahren für sich in Deutschland erkannt haben, beschließen Ruth, Hans, Dora und Ernst mit Christiane in London unterzuschlüpfen. Berthold flieht nach Paris. Dora ist weiterhin getrieben von ihren Ideen, arbeitet unermüdlich, hält Kontakte zu allen Mitkämpfern und Mitkämpferinnen, zu Intellektuellen, zur britischen Regierung. Ruth beschreibt, wie ihr Leben in einer Dachwohnung in Bloomsbury weitergeht, finanziert durch Geld das sie von ihren Eltern geschickt bekommt. Restaurantbesuche, gute Kleidung, eine Zugehfrau, eine Katze. Scheinbar nobel aus heutiger Sicht betrachtet, doch immer mit der Angst im Nacken dass ein Visum nicht verlängert wird, sie durch ihre Untergrundaktivitäten negativ auffallen. Ernst Toller definiert diese Zeit wiederum durch seine Begegnungen mit Dora, die weiterhin seine Geliebte ist, obwohl er mit seiner Frau Christiane zusammenlebt. Gemeinsame Arbeit, aber hauptsächlich die Begegnungen der beiden als Liebespaar erzählt er seiner Sekretärin Clara, ohne zu versäumen deutlich zu machen, welch intelligentes, kämpferisches, idealistisches Wesen Dora war. Während Ruth sich London, seiner Einwohner, den englischen Lebensweisen und den Regeln der britischen Gesellschaft durch die differenziert beobachtende Linse ihrer Fotokamera nähert, sie in den Sitzungen gleichgesinnter weiterer Exilanten praktische Aufgaben übernimmt, verzweifelt der zuvor gefeierte Journalist Hans an seiner auch durch sprachliche Barrieren und den fehlenden ausländischen Quellen, vermeintlich abgegraben von Dora, auferlegten Untätigkeit. Seine Verzweiflung und der Wunsch, gebraucht zu werden, bringen seine Homosexualität, aber auch Verheerendes hervor. Aufgrund der tragisch gescheiterten Befreiung Bertholds, den Hans zuvor in Frankreich besucht hatte, muss Ruth das wahre Gesicht ihres Mannes erkennen. Etwas, was Dora scheinbar schon früher gespürt haben musste, was sowohl Ernst Toller als auch Ruth selbst aufgrund Doras Handlungen und Vorgehensweisen am Ende erkennen.
 Teil drei des Romans deckt auf, aus welchen Gründen sowohl Ruth als auch Ernst nie an einen Selbstmord von Dora und ihrer Freundin, der Politikerin Mathilde Wurm, glaubten und wie böse ihnen mitgespielt wurde durch den Verrat aus den eigenen Reihen an das Terrorregime in Deutschland. Nach einem Gefängnisaufenthalt gelingt es Ruth, zunächst nach Singapur auszuwandern. Zermürbende Jahre, unter elenden Bedingungen. Später kann sie sich ein Ticket nach Australien leisten, wo sie wieder als Lehrerin arbeiten kann und ein bürgerliches Leben führt. Ernst Toller flieht mit seiner Frau, wie bereits erwähnt, in die USA, rekapituliert aber vor dem Leben der starken, willensgeleiteten, intelligenten Dora.
 Es scheint, als stünden all die auch hier nicht erwähnten historischen Figuren im Kreise, um Dora Fabian auferstehen, sie strahlen zu lassen. Ernst Toller und Ruth Becker erwecken sie aus ihrem Geiste zum Leben. Der Leser/die Leserin kann sie sehen, die kleine schlanke Frau mit den kurzen schwarzen Haaren, den schwarzen Augen, ihren energischen Gang, ihre durchdringende Präsenz, ihre Redegewandtheit, ihre Menschlichkeit in den abgenagten Fingernägeln, dem Wunsch nach Erleichterung durch Veronal und Morphium, die Liebesbedürftigkeit, ihre Körperlichkeit, die gewollte Nähe zu intellektuellen Männern, wenn auch nicht immer uneigennützig – wobei Doras Eigennutz stets zum Nutzen ihrer Idee des Sozialismus ist -, die Rauchfahne der unzähligen gerauchten Zigaretten hinter ihr. Seien ihre Ideen nun für die Menschheit politisch motiviert gut und richtig oder falsch und verwerflich gewesen, darum geht es hier nicht. Es geht um das Portrait einer Frau, das von ihrem Geliebten, dem Einzigen der sie verstanden zu haben scheint, der sie brauchte um selbst stark, wirklich und tätig zu sein, und einer ihr nahestehenden Verwandten, die durch ihre Ehe vermeintlich Unheil über sie brachte, der sie dies aber niemals nachgetragen hätte – ob aus Liebe oder aus Nachsicht muss Ruth, wenn auch bitter, für sich selbst entscheiden – gezeichnet wird vor dem Hintergrund zweier zerstörerischer Kriege. Dass es sich bei der Clique der Sozialisten um Juden handelt, tritt vor ihrer politischen Gesinnung in den Hintergrund und ist nicht die Frage des Romans. Verbrechen an Menschen werden anderweitig, jedoch nicht gemindert dargestellt. Geschichte wird durch eine Geschichte, aufgenommen von zwei Personen, aus der Gegenwart und der Vergangenheit, nachgezeichnet und begreiflich gemacht.
 Ich wünschte, meine Geschichtslehrer hätten diese besondere und bedeutende, generell alle, Epochen der Geschichte auf diese Weise dargestellt. Nicht nur an Jahreszahlen, die von ihnen eitel aufgesagt weil gut auswendig gelernt, und den Schülern vehement eingehämmert und abgefragt wurden, sondern an Geschichten echter Menschen, ihrem Erleben zu jener Zeit. Um verständlich zu machen, dass Geschichte durch Aktionen und Reaktionen von Menschen entsteht und verläuft. Echte Menschen. Menschen wie Dora, Ruth und Ernst. Auch wenn Fiktion das Band zwischen den Protagonisten enger knüpft, so belegen die Quellenangaben der Autorin, was tatsächlich gewesen ist. Ich hätte gerne schon viel früher auf diese Weise über die Vergangenheit gelernt, schätze mich glücklich es nun selbstbestimmt und frei tun zu können. Dank Autorinnen und Autoren wie Anna Funder.