Rezension

Sorgfältig recherchierte Romanbiografie

Alles, was ich bin - Anna Funder

Alles, was ich bin
von Anna Funder

Bewertet mit 4 Sternen

"Es ist das Leiden anderer, das uns zugrunde richtet." (S. 343) wird Ruths Fazit am Ende ihres Lebenswegs sein. Die alte Dame, die nach einem Sturz schwer verletzt ins Krankenhaus von Sydney eingeliefert wird, hat ein bewegtes Leben hinter sich. Nach ihrer Entlassung aus fünfjähriger Haft wegen Landesverrats in Nazi-Deutschland musste sie sofort emigrieren. Kurz vor dem Unfall hat ihr Neurologe Ruth Wesemann mit der Diagnose beginnende Demenz konfrontiert. Sie selbst erlebt ihr Gedächtnis als besser als je zuvor. Mediziner würden Ruths lebendige Erinnerungen an Ereignisse vor 65 Jahren dagegen als Beleg für ihre nachlassende geistige Leistungsfähigkeit sehen. Ruths Erinnerungen werden mit fortschreitender Demenz oder mit ihrem Tod endgültig verloren sein. Teilen kann sie sie mit niemandem, zu fremd wirkt das Geschehen auf ihre australischen Bekannten. Im Krankenhaus besteht die Gefahr, dass Ruths Assoziationen als Beleg für eine Psychose gesehen werden. Ein Schatten im Türrahmen, ein klapperndes Schlüsselbund bringen Ruth in Gedanken zurück ins Berlin des Jahres 1933 und in die Zeit ihres Exils in London. Ruth lebte dort zusammen mit ihrem Mann Hans Wesemann (1895-1971) und ihrer älteren Cousine Dora Fabian, der Sekretärin Ernst Tollers (1893-1933). Im Londoner Exil werden bekannte Persönlichkeiten zu Niemanden aus der Provinz, denen man wie Kindern beibringt, wie sie sich in der fremden Kultur zu benehmen haben. Das Ehepaar Wesemann wird von Ruths wohlhabendem Vater finanziell unterstützt und gehört zu einer sozialistischen Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Zwar ist ihnen die Flucht aus Deutschland gelungen, damit sind sie jedoch noch lange nicht in Sicherheit vor ihren Verfolgern. Die Notgemeinschaft im Exil lässt Ruth einsehen, dass man selbst seinem Nächsten in unruhigen Zeiten besser nicht vertraut. Später wird sich herausstellen, dass Wesemannein Gestapo-Spitzel war.

Die Sache, der Widerstand gegen die Nazis, sollte die Menschen zusammenschweissen und persönliche Gefühle dahinter zurückstehen, so sahen Ruths Gefährten im Exil die Zukunft ihrer Beziehungen. (S. 81) Anna Funder gibt uns Einblick in die Lebenswelt eines intellektuellen, bürgerlichen Milieus, das ein Hausmädchen als selbstverständlichen Lebensstandard beanspruchte - sogar in zwei winzigen Zimmern in London. In Ruths und Doras Freundeskreis diskutiert man über Arbeiterrechte, macht sich aber über die Lebensbedingungen des eigenen Hausmädchens keine Gedanken.

Anna Funders sorgfältig recherchierte Romanbiografie verknüpft mit einer in der Gegenwart spielenden Rahmenhandlung Ereignisse der Exiljahre in London und Ausschnitte aus Tollers Autobiografie. Ein Exemplar der Erstausgabe der Biografie Tollers weckt bei der betagten Ruth Erinnerungen an die Geschehnisse von 1933. Ruth Wesemann und Ernst Toller wechseln sich als Icherzähler ab. Das Leben der realen Ruth Blatt (1906-2001) spiegelt die Autorin in Dora Fabians tragischem Schicksal. Funder war mit Ruth Blatt bis zu deren Tod befreundet. Dora Fabian (1901-1935) rettete einen Koffer mit Tollers Autobiografie und seinen Tagebüchern aus dessen Wohnung. Die Nazis werteten ihre Tat als Vernichtung von Beweismitteln gegen Toller. Ruths leicht ironischer Erzählton hat mich als Leser direkt und sehr emotional angesprochen. Tollers Innensicht dagegen, des "aus einer anderen Welt angespülte Revolutionärs", konnte mich im Vergleich dazu weniger berühren.