Rezension

Wieder einmal Spannung ohne Ende

Reckless - Auf silberner Fährte
von Cornelia Funke

Bewertet mit 5 Sternen

Das vierte Abenteuer hinter den Spiegeln führt Jacob und Fuchs in den fernen Osten. Jacob sucht gemeinsam mit seinem Bruder Will nach einem Spiegel, von dem Sechzehn, das Mädchen aus Glas und Silber, erzählt hat. Will sinnt nach Rache, Jacob sucht nach Sicherheit für sich und Fuchs, denn der Handel, den er einst mit Spieler geschlossen hat, ist noch nicht vergessen. Aber ein Toter hat andere Pläne, und der Spiegel, nach dem sie suchen, gebiert eine furchtbare Jägerin.

In diesem vierten Band der Spiegelwelt-Reihe werden die verschiedenen Handlungsstränge, die sich in den Vorgängern bereits anbahnten, um ein Vielfaches komplexer. Der begrenzte Protagonisten-Teil der ersten beiden Bände, vor allem Jacob und Fuchs als Hauptcharaktere, hat sich um ein Vielfaches ausgeweitet, ebenso wie die Welt hinter den Spiegeln. Einige Personen, die im zweiten und dritten Teil kaum oder gar nicht vorkamen, spielen nun eine wichtige Rolle und haben sich weiterentwickelt; andere Charaktere treten dafür in den Hintergrund und machen neuen Personen Platz. So bilden nun Jacob, Fuchs, Will, Clara, Nerron, Sechzehn, Spieler und der neu zugestoßene Hideo den wachsenden Protagonistenkreis, und keinen von ihnen möchte ich mehr missen! Dem für mich etwas enttäuschenden dritten Teil zum Trotz (über den ich meine Meinung nach wiederholtem Lesen allerdings auch etwas nach oben revidieren konnte) freute ich mich sehr, wieder in die Spiegelwelt zu reisen, und wurde nicht enttäuscht. Der vierte Reckless-Band bietet viel Spannung und Tempo, was vor allem an den vielen verschiedenen Charakteren liegt, die in ihrer Liebenswürdigkeit, Verschlagenheit, Undurchsichtigkeit die Handlung schnell vorantreiben. So gibt es eigentlich kein Kapitel, in dem man etwas zur Ruhe kommt; stetig werden Entscheidungen getroffen, Gefahren gemeistert, Beziehungen überdacht und vor allem: Geheimnisse gelüftet. Manches hatte sich zwar schon im Vorgänger angedeutet, anderes kam sehr unerwartet. 

Die Gefahr, die es diesmal zu meistern gilt, verbindet die verschiedenen Parteien: Sie alle sind - gewollt oder ungewollt - mit den Erlelfen im Clinch. Jacob und Fuchs suchen verzweifelt einen Weg, sich aus dem Handel mit dem Erlelf Spieler zu befreien, der nach ihrem Erstgeborenen trachtet und sie unerbitterlich jagd. Will, der erkannt hat, dass Spieler ihn nur benutzt hat, ist getrieben von Rache, Angst und seiner Liebe zu Sechzehn - und das ist noch längst nicht alles, das ihn mit Spieler verbindet. Auch Clara kehrt durch den Erlelfen in die Spiegelwelt zurück, und Nerron verfolgt wie immer seine ganz eigenen Pläne, aber der weiche Kern unter seiner harten Schale macht ihm zunehmend zu schaffen. Und Spieler selbst hat auch seine ganz eigenen Gründe, die Fäden allzeit in der Hand halten zu wollen...

Die Figuren und ihre Beziehungen zueinander, ihre Absichten und Gedanken sind inzwischen ebenso komplex wie die Handlung, und es fällt sehr schwer, sogar die Gegenspieler wirklich unsympathisch zu finden. Besonders ins Herz geschlossen habe ich aber inzwischen Nerron, der einfach ein vielschichtiger, berührender Charakter ist und auf dessen weitere Entwicklung ich schon sehr gespannt bin. Jacob ist der gewohnte Draufgänger, der sich in so ziemlich jedem Winkel der Spiegelwelt den ein oder anderen Feind gemacht hat und auch in diesem Abenteuer mehrere Kerker von innen sehen darf. 

Die Orte der Spiegelwelt sind diesmal auch breiter gestreut. Ausgehend vom Japan-Pendant verschlägt es die Charaktere in alle Himmelsrichtungen, in hohe Türme und weit unter die Erde. Und natürlich kommen auch die märchenhaften Zauber, oft Retter in letzter Sekunde, nicht zu kurz. 

Ich finde, die Reckless-Reihe zeigt bisher am deutlichsten das vielfältige Talent der wunderbaren Cornelia Funke, die ja kürzlich und sehr verdient den Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Gesamtwerk erhalten hat. Dass die Autorin von so schönen Geschichten wie "Lilli und Flosse", das ich als Kind so gern gelesen habe, einmal etwas so düsteres wie die Spiegelwelt entwerfen würde, das hätte ich damals gar nicht geglaubt. Mir kommt es vor, als erfinde sie sich mit dieser Spiegelwelt noch einmal ein wenig neu, und ich hoffe, dass sie damit noch lange nicht aufhört!