Rezension

Berührende und intensive Fiktion, die stellenweise an der Realität kratzt

Miroloi - Karen Köhler

Miroloi
von Karen Köhler

Bewertet mit 5 Sternen

Berührende und intensive Fiktion, die stellenweise an der Realität kratzt

Aufmerksam wurde ich auf dieses Buch, weil ich die Leseproben der Bücher durchlas, die es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 geschafft hatten. Es gab zwar einige, die Lust aufs Weiterlesen machten, aber keine konnte mich auf Anhieb so packen, wie „Miroloi“ von Karen Köhler es tat.

Denn hier schreibt, oder besser gesagt, singt die sechzehnjährige Erzählerin, der es versagt ist einen Namen zu haben, in 128 Strophen ihr Miroloi. In der griechisch-orthodoxen Kirche ist ein Miroloi als Totenlied bekannt, einem von Frauen gesungenen Klagelied, in dem das Leben des Verstorbenen noch einmal nach gesungen wird. Und während man sich noch fragt, was es mit diesem Totenlied eigentlich auf sich hat, erfährt man nach und nach aus der Ich-Perspektive und mit der besonderen Erzählstimme die Geschichte dieser jungen namenlosen Frau, der das Leben nicht gerade wohlgesonnen ist. Alles liest sich ungefiltert und authentisch. Ganz stimmig zeichnet sich hier das Bild eines Menschen, dem aufgrund seines Geschlechts Bildung und aufgrund des als Findelkind fehlenden Stammbaums Anerkennung und Akzeptanz versagt ist. Denn durch und durch frauenfeindlich und streng religiös geht es auf der fiktiven Mittelmeerinsel zu.

Karin Köhler hat mit diesem Buch einen Mikrokosmos geschaffen, um freizulegen, was die eigentlichen Mechanismen sind, die dazu beitragen, dass Frauen immer noch strukturell unterdrückt sind. Frauen wird in diesem Roman immer noch Bildung untersagt – sie dürfen nicht lesen und schreiben lernen. Um nicht eine bestimmte Religion zu verunglimpfen, schuf die Autorin eine erdachte polytheistische Religion, deren heilige Schrift – die Khorabel – sich dem Willen der auf der Insel herrschenden Männer anzupassen scheint. Frauen haben kaum Rechte, aber viele Pflichten. Und wo die Bildung fern ist, herrschen außerdem zerstörerisch Aberglaube, Vorurteile und vor allem Dummheit. Voller Hingabe, Neugier und Wut auf die Verhältnisse erzählt „Miroloi“ von einer jungen Frau, die sich auflehnt: Gegen die Strukturen ihrer Welt und für die Freiheit.

Die Sprache ist so einfach, so naiv und unbedarft, wie die junge Frau, eine eher tragische Heldin, die hier erzählt. Aber wie sie das macht, ist besonders. Sie beschreibt, wie sie auf ihre Art die Dinge sieht, wie sie sie erlebt und was sie dabei fühlt.

„Ich sehe alles wie von sehr weit weg, höre alles durch eine dumpfe Schicht. Ich bin da, aber ich bin nicht da. Trauer ist ein Biest, das dich jederzeit anfallen kann. Mal würgt es dich und raubt dir den Atem, mal pustet es dir Wolken in den Kopf, mal reißt es dir die Gedärme raus, mal tropft es still durch deine Augen, mal liegt es bergschwer auf dir, saugt dir jedes Gefühl aus dem Leib und drückt dich zu Boden, dass du denkst, du kommst nie wieder vom Fleck.“ (S. 395)

Es kommt dabei zu intensiven Schilderungen, berührenden Wortneuschöpfungen und poetischen Umschreibungen, die das Lesen für mich zu etwas Besonderem machten. Gleichzeitig wächst mit fortschreitender Geschichte das ungute Gefühl, dass das alles nicht gut ausgehen kann. Das machte mich neugierig und sorgte neben der gefühlvollen Erzählperspektive dafür, dass ich das Buch kaum aus der Hand legen mochte.

„Miroloi“ ist ein Roman, der berührt, weil er schmerzlich erkennen lässt,  dass es in manchen Ländern diese Zustände in ähnlicher Form immer noch gibt. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2019 war leider kein Platz für dieses Buch mehr frei, aber es konnte mich dennoch begeistern und gehört für mich zu den Highlights in diesem Jahr.