Rezension

„Ein Mädchen kann nicht Dichter werden“

Kindheit
von Tove Ditlevsen

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn es in mir zu singen beginnt, achte ich besonders darauf, dass die Maske nicht löchrig wird. Kein Erwachsener verkraftet den Gesang in meinem Herzen und die Wortgirlanden in meiner Seele. Doch sie wissen von ihnen, weil ein paar Fetzen davon über einen geheimen Kanal aus mir heraussickern, den ich nicht kenne und deshalb auch nicht abdichten kann.

Tove Ditlevsen schreibt in diesem außergewöhnlichen Buch über ihre schwierige Kindheit, über die Gratwanderung des Zusammenlebens mit einer egozentrischen und unberechenbaren Mutter und einem in traditionellen Rollenklischees verhafteten Vater („Bild dir bloß nichts ein. Ein Mädchen kann nicht Dichter werden.“). Brutal wird man in die Gedankenwelt des anfangs fünfjährigen Kindes hineingestoßen. Gibt es jemanden, der dieses Kind liebt? Vielleicht der Vater. Ein aufrechter Sozialdemokrat mit moralischen Skrupeln, dem Tove von klein auf ihre exzellente literarische Bildung verdankt. Aber was die stillschweigende Aufrechterhaltung der Vormachtstellung der Männer angeht, bleibt er ein provinzieller Sesselpuper. Die Mutter aber - vor ihr muss das Kind den Anschein erwecken, unsichtbar zu sein, um die zerbrechliche Idylle einer unsichtbaren Mutter-Kind-Beziehung zu wahren. Tove hat gelernt, ihre Gefühle so gut zu verstecken, dass sie sie irgendwann selber nicht mehr findet. Eine Straße - die Istedgade - scheint der einzige Wärmespender für das Kind zu sein. Und ihre Gedichte. Heimlich notiert sie ihre Werke in ihrem Poesiealbum - nicht auszudenken, wenn es jemand fände! Tove weiß, dass sie anders ist, anders als alle, und sie bemüht sich, dieses Anderssein zu verbergen. 

Frappierend ist, wie das hochintelligente Kind scharf und gnadenlos das Verhalten ihrer Eltern analysiert. Beeindruckend, wie unerschütterlich es an seiner literarischen Begabung festhält. Eindrücklich, mit welch außergewöhnlichen Bildern die Autorin ihre personifizierte Kindheit beschreibt.

Die Zeit verging, und die Kindheit wurde dünn und platt wie Papier. Sie war müde und fadenscheinig, und an schlechten Tagen sah es nicht so aus, als würde sie halten, bis ich erwachsen war.​

„Kindheit“ ist der erste Band der biographischen Trilogie einer genialen dänischen Ausnahmeautorin („Kindheit/ „Jugend“/ „Abhängigkeit“), vom aufbau-Verlag in einer wunderschönen Neuauflage herausgegeben und von Ursel Allenstein gekonnt ins Deutsche übertragen. Unbedingte Leseempfehlung!