Ungeschminkt, schonungslos und brutal, aber voll von sprachlicher Schönheit
Bewertet mit 5 Sternen
Manche Hypes gehen einfach an mir vorüber und so schaute ich mir in der vergangenen Woche den Literaturclub von März an, ohne zuvor jemals etwas von Tove Ditlevsen gehört oder gelesen zu haben. Doch als dort Lara Körte eine Passage aus „Kindheit“ vorliest, bin ich gleich wie elektrisiert und beginne bereits wenige Stunden später das Buch selbst zu lesen.
Tove Ditlevsen ist 1917 in einem Arbeiterviertel in Kopenhagen geboren und hat 1967 während eines Klinikaufenthalts begonnen an „Kindheit“, dem ersten Buch ihrer autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie, zu schreiben. Als dieses Buch in Dänemark erschien, hatte Tove Ditlevsen in Dänemark längst jene Berühmtheit als Dichterin erlangt, von der sie schon als kleines Kind träumte. Während die kindliche Dichterin noch ‚voller Lügen‘ steckte, wie es ihr Bruder Edvin ausdrückte, machte sie als Erwachsene mehr oder weniger unverholen Gebrauch von der eigenen Biographie. „Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“ sagte sie einmal, „sonst ist es keine Kunst. Man kann das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.“
Als Arbeiterkind, noch dazu als Mädchen, wird Tove Ditlevsen in eine Welt geboren, die äußerst ungünstige Voraussetzungen für sie bietet. Sie entdeckt schon sehr früh das Lesen und das Schreiben für sich, worin sie Zuflucht findet. Aber Frauen werden zu dieser Zeit keine Dichter, erst recht nicht, wenn sie in lieblosen ärmlichen Zuständen aufwachsen, die von Demütigung geprägt sind. Denn der Frau ist es bestimmt Hausfrau und Mutter zu werden – in ihre Bildung zu investieren ist Zeit und Geldverschwendung.
„Doch selbst wenn sich niemand sonst für meine Gedichte interessiert, bin ich gezwungen, sie zu schreiben, denn sie dämpfen die Trauer und Sehnsucht in meinem Herzen.“ (S. 92)
Einige der Gedichte, in denen sie von einem anderen Leben träumt, kann man in diesem Buch lesen, aber vielmehr bin ich beeindruckt von der Art, wie sie ihre Kindheit beschreibt. Sie erzählt einerseits so ungeschminkt und schonungslos, dass es beim lesen schmerzt und man als „Frau von Heute“ die allgemein übliche Ungerechtigkeit vergangener Zeiten kaum ertragen kann. Aber es kommt andererseits auch die Dichterin Tove Ditlevsen zum Vorschein, die treffende Metaphern findet und sich an den passenden Stellen lyrisch genau so auszudrücken versteht, dass es nicht überladen wirkt und man sich vor ihrem sprachlichen Talent einfach nur bewundernd tief verneigen möchte.
„[…] und ohne, dass ich es weiß, sinkt meine Kindheit leise auf den Grund der Erinnerungen, dieser Seelenbibliothek, aus der ich bis an mein Lebensende Wissen und Erfahrungen schöpfen werde.“ (S. 98)
Mit 118 Seiten ist „Kindheit“ ein eher schmales Büchlein, das es jedoch in sich hat. Ich werde unbedingt weiter lesen und bin nun gespannt auf „Jugend“, den zweiten Band der Kopenhagen-Trilogie.