Rezension

Stark autobiografisch geprägte Kindheitserinnerungen in bildhaft-poetischer Sprache

Kindheit
von Tove Ditlevsen

Bewertet mit 5 Sternen

Ein einsames Mädchen, das nicht in seine ärmliche ungebildete Umgebung passt, melancholisch, stark autobiografisch, in bildhafter Sprache

Warum dieses Buch?

Ich habe es zu einer Leserunde gewonnen und beworben habe ich mich, weil mir bei der Leseprobe die poetische, innovative Sprache so gut gefallen hat.

Das Äußere

'Ach, was für ein dünnes Büchlein' (Hardcover), dachte ich, mit Nachwort der Übersetzerin gerade mal 120 Seiten. Aber man wundert sich beim Lesen, wie viel 'an Stoff' darin steckt. Das Cover ist relativ unauffällig mit der nostalgischen Anmutung einer alten Fotografie. Dafür 18 € ist 'nicht ohne', aber: es lohnt sich.

Worum geht es?

'Ich weiß, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat, so wie jedes Kind seine eigene Kindheit.' (19)

Und dieses Kind, ein Mädchen, hat eine andere 'Wahrheit' als seine Umgebung. Wir befinden uns im Kopenhagen der Zwanziger, eine ärmliche Zeit für die meisten Leute, Arbeitslosigkeit, Hunger und strikte, konventionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Und nicht nur das, in gewissen Kreisen ist auch Bildung verpönt. In solch' einem Umfeld muss sich natürlich die kleine Tove, die gerne und viel liest, die sogar Gedichte schreibt, völlig fremd und einsam fühlen. Sie beobachtet bei den Menschen 'die eigentümliche Bösartigkeit gegenüber jedem, der anders ist' (27).

Dazu kommt, dass sie sich von ihrer Mutter ungeliebt fühlt, eine Mutter, die wahrscheinlich nur ihre Gefühle nicht ausdrücken kann. Und der Vater gibt ihr zwar Bücher, weiß aber sonst nichts mit ihr anzufangen, sondern bevorzugt den Bruder. Seine zynische Bemerkung 'Mädchen sind doch wohl auch eine Art Menschen' (69) war zwar in einem bestimmten Zusammenhang gut gemeint, aber dennoch 'voll daneben'.

Die Kindheit geht zu Ende – was wird wohl aus diesem intelligenten, begabten Mädchen werden, das so unterschätzt wird?

'Der Kindheit kann man nicht entkommen, sie hängt an einem wie ein Geruch' (31). Sie wurde 'dünn und platt wie Paper. Sie war müde und fadenscheinig' (73).

Wie es weitergeht, erfahren wir in Band 2 und 3 der Trilogie, die beide noch in diesem Februar erscheinen werden.

Die Sprache

Vordergründig klingt manches naiv, aber die Gedanken von Tove sind es nicht und die Sprache schon mal gar nicht. Sie ist poetisch-innovativ, ohne Klischees, voller ungewöhnlicher Sprachbilder, z.B. 'die Wortgirlanden in meiner Seele' (33), Papiertütengelächter (11), der dunkle Rand aus Angst, der sich um die Gedanken legt (14).

Sicher gebührt auch der Übersetzerin Ursel Allenstein ein großes Kompliment. (Sie hat übrigens auch die Sebastian-Bergman-Reihe – Krimis – übersetzt.)

Meine Meinung

Für mich ist das große Erzählkunst, dem Leser ganz nebenbei und sozusagen zwischen den Zeilen einiges zu vermitteln: die Zeitumstände (Spanische Grippe, Versailler Vertrag, Kommunisten, Armut, Hunger), das Verhältnis zu den Eltern und das der Familienmitglieder untereinander.

Es hat mir gefallen, wie aufmerksam dieses kleine Mädchen seine Umwelt beobachtet, das Gesehene bewertet und für sich einordnet. Allerdings liegt über der ganzen Kindheitsgeschichte ein Hauch von Einsamkeit und Melancholie, wenn nicht sogar Traurigkeit.

Mal nebenbei bemerkt: Vieles hat auf mich anregend gewirkt, Erinnerungen angerührt, selber über die Kindheit nachzudenken, vielleicht etwas über 'meine Straßen' aufzuschreiben, nur dass ich es nicht so wunderschön ausdrücken kann wie die wiederentdeckte dänische Autorin Tove Ditlevsen.

Fazit

Dieses Buch hat mir trotz der innewohnenden Melancholie eine große Lesefreude beschert. Wer gerne Lebensgeschichten mag und ein Faible für poetische Sprache hat, dem könnte dieses Buch auch gefallen.