Eine Frau, geboren 1917 und entschlossen, Dichterin zu werden
Bewertet mit 5 Sternen
Tove Ditlevsens Erinnerungen an ihre Kindheit beginnen mit dem Eindruck einer Fünfjährigen, in einer kalten, feindseligen Umgebung nicht beachtet und von ihrer Mutter abgelehnt zu werden. Bei Toves Einschulung im folgenden Jahr zeigt sich ihre Lehrerin äußerst ungehalten darüber, dass das Kind sich bereits selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat. Tove wächst inmitten von widersprüchlichen Signalen und Rollenerwartungen auf, die für ein Kind nur schwer zu entwirren waren. Ihr Vater arbeitete bis zu 12 Stunden täglich als Heizer, er war Sozialist, Gewerkschafter und erstaunlich belesen. Die Rollenverteilung zwischen Ernährer und Hausfrau wurde von den Eltern nicht infrage gestellt, deutlich war jedoch, dass die Mutter alle Interessen ihres Mannes ablehnte und sich ihre Tochter später als brave Hausfrau wünschte. Als das Mädchen schon früh beschließt, später Gedichte zu schreiben, lehnt ihr Vater entschieden ab, dass ein Mädchen Dichter werden könne. Toves Vater wirkt jedoch unsicher, wie er mit einem kleinen Mädchen sprechen soll, das seine literarischen Interessen teilt, die wiederum von der Mutter strikt abgelehnt werden. Aus dem Kleinkind, das anfangs noch alles wörtlich nimmt, entwickelt sich im ersten Band der Trilogie eine wissbegierige Schülerin, der die Kinderbuchabteilung der Bibliothek von Anfang an nicht genügt. Der Besuch der Sekundarschule wird Tove schließlich „erlaubt“, weil selbst ihre Eltern eine Ablehnung ihr gegenüber ungerecht finden.
Die spätere Autorin autofiktionaler Romane durchschaut die Rollenunsicherheit ihrer Eltern früh. Obwohl nicht zu übersehen ist, dass der ältere Bruder Edvin allein aufgrund seines Geschlechts nicht klüger ist als seine Schwester, beharren die Eltern auf der für sie unverrückbaren Einteilung. Nur ein Junge kann seine Eltern stolz machen, Mädchen heiraten. Obwohl für Leser der Gegenwart deutlich hervorsticht, wie wichtig für ein Mädchen aus einem Arbeiterhaushalt damals ihre Lehrerinnen und die Bibliothekarin gewesen sein müssen, scheint Tove sich im ersten Teil ihrer Biografie dessen noch nicht bewusst zu sein. Dass alle drei Mentorinnen von ihrer Umwelt nicht als Frauen wahrgenommen wurden, verwundert rückblickend kaum. Ursel Allenstein schreibt im informativen Nachwort, dass in den 60ern, als "Kindheit" erschien und Tove Ditlevsen längst bekannt war, die Zeit für Frauenthemen offenbar noch nicht reif gewesen ist.
Fazit
„Kindheit“, das zusammen mit dem zweiten Band „Jugend“ 1967 während einer Sucht-Therapie der Autorin entstand, zeigt Tove Ditlevsen bereits im Grundschulalter als kluge Beobachterin, die die Lebenslügen ihrer Mitmenschen durchschaut, ihre Intelligenz jedoch stets verbirgt, um nicht anzuecken. Bewegend fand ich hier besonders die Schicksale von Vater und Bruder, die ebenfalls in ihrer vorgezeichneten Rolle nicht glücklich werden konnten.
Die Trilogie
1. Kindheit (1967 Barndom)
2. Jugend (1967 Ungdom)
3. Abhängigkeit (1971 dänisch Gift, 1980 dt. „Sucht“ suhrkamp, Übersetzerin Erna Plett 978-3518110096)
Auf Deutsch erschien 1980 nur der 3. Band der Trilogie, die Bände 1 und 2 wurden für diese Ausgabe zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt.