Rezension

Eine außergewöhnliche Geschichte über eine außergewöhnliche Freundschaft, die zum Nachdenken bewegt

Bäume reisen nachts - Aude Le Corff

Bäume reisen nachts
von Aude Le Corff

*Worum geht's?*
Seit Manons Mutter ihre Familie eines Morgens ohne große Worte verlassen hat, ist das Leben des achtjährigen Mädchens das reinste Chaos. Ihr Vater Pierre, der sich vor Trauer kaum rühren kann, kann sich nicht mehr um sie kümmern und auch ihre Tante Sophie ist mit der Situation völlig überfordert. Um ihrer eigenen Einsamkeit zu entkommen, setzt sich Manon Tag für Tag mit einem Buch unter die große Birke im Garten und leistet den Ameisen und Katzen Gesellschaft. Als Anatole, der mürrische Nachbar, auf Manon aufmerksam wird, ahnen weder das Mädchen noch der alte Mann, welche Bedeutung sie einmal füreinander haben werden. Gemeinsam entdecken sie die Welt des Kleinen Prinzen, lernen von seinen Reisen zu anderen Planeten und seinen außergewöhnlichen Freundschaften und werden selbst zu Freunden, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Als eines Tages plötzlich Briefe von Manons Mutter eintreffen, fassen sie gemeinsam mit Pierre und Sophie den Entschluss, nach Marokko zu reisen und sie zu suchen. Eine abenteuerliche Reise beginnt, die jeden von ihnen verändern wird…

*Meine Meinung:*
Das achtjährige Mädchen Manon, das aus Einsamkeit mit Katzen und Ameisen spricht. Ihr Vater Pierre, der sich aus Verzweiflung nicht rühren kann. Ihre Tante Sophie, die aus so vielen Ebenen des Lebens einen Ausweg sucht. Und Anatole, der alte Französischlehrer, der an seinem Lebensabend vergessen hat zu leben. Eine verquere Truppe, die zwar im gleichen Gebäudekomplex wohnt, sich aber nicht wirklich zu kennen scheint, beschließt kurzerhand eine Reise nach Marokko zu unternehmen, um nach Manons Mutter zu suchen, die ihre Familie eines Morgens urplötzlich verlassen hat.

Während ihrer abenteuerlichen Reise quer durch Europa finden die vier unterschiedlichen Figuren viel Zeit zum Nachdenken. Bekannte Orte beschwören Erinnerungen herauf, an die man schon viel zu lange nicht mehr gedacht hat, und anregende Gespräche fordern sie dazu auf, neue Perspektiven des Lebens kennenzulernen. Gemeinsam mit den Charakteren erlebt man eine außergewöhnliche Reise, die viel mehr bietet als einen Roadtrip mit unterschiedlichen Hintergrundgeschichten. „Bäume reisen nachts“ ist ein Buch über eine Reise, die jeden mitnimmt und weit über die Buchdeckel hinausgeht: eine Reise durch das Leben.

Aber „Bäume reisen nachts“ beginnt schon vor der Autofahrt nach Marokko. Aude Le Corff setzt ihre Erzählung dort an, wo für die junge Manon das Leben endlich einen Weg aus ihrer Verzweiflung bereithält. Nach Monaten der Trauer, der Sehnsucht und der Verzweiflung, die ihre Mutter mit ihrem plötzlichen Verschwinden ausgelöst hat, trifft das einsame Mädchen auf den alten Anatole. Obwohl die beiden Nachbarn sind, sind sie sich bisher kaum begegnet, doch ihr erstes Treffen und die daraus erwachsende Freundschaft verändert alles: Manon beginnt wieder zu Leben – und auch Anatole, der sich schon mit seinen letzten Tagen abgefunden hat, schöpft neuen Lebenswillen. Hier beginnt eine Geschichte über eine außergewöhnliche Freundschaft, über Verlust und Trauer, über Träume und Sehnsüchte und den Mut, sich diese zu erfüllen. „Bäume reisen nachts“ ist ein Roman mit klaren Aussagen, aus dem man als Leser vieles für sich mitnehmen kann.

Was mich persönlich ein wenig enttäuscht hat, war die grundlegende Entwicklung der Handlung. Steht zu Beginn noch ganz klar die bedeutsame Freundschaft zwischen Manon und Anatole im Vordergrund, zieht die Autorin Aude Le Corff im Verlauf der Geschichte immer mehr andere Handlungsstränge hinzu. Langsam, aber sicher entwickelt sich „Bäume reisen nachts“ von einem Roman über eine außergewöhnliche Freundschaft zu einem Buch über fünf Schicksale, die extrem unterschiedlich sind und doch alle miteinander zusammenhängen.

Dabei ist jedes dieser fünf Schicksal es wert, dass sie erzählt werden. Die Autorin schildert sie auf berührende Weise und hat mich mit jedem Kapitel mehr in die Geschichte hineingezogen. Ich wollte um jeden Preis erfahren, wie es mit Manon, Anatole, Sophie und Pierre weitergeht. Wollte erfahren, was sie zu erzählen haben, was für ein Leben sie geführt haben, dass sie zu den Menschen geworden sind, die sie sind. Dabei greift Aude Le Corff einige ungewöhnliche Themen auf, die sie ihren Lesern ebenso speziell nahebringt.

Obwohl mich die Schicksale berührt, bewegt und zum Nachdenken gebracht haben, hatte ich mir von „Bäume reisen nachts“ im Großen und Ganzen etwas anderes erhofft. Die Freundschaft zwischen Manon und Anatole ist und bleibt das Highlight des Romans, das jede andere Facette der Geschichte nicht einmal ansatzweise übertrumpfen kann. Zu lesen, wie die beiden sich trotz all der Unterschiede gegenseitig aufbauen und Mut schenken, wie sie sich durch ihre gemeinsame Zeit wieder dem Leben annähern, hat mein Herz höher schlagen lassen. Freundschaft kennt keine Grenzen – und Altersgrenzen erst recht nicht.

*Fazit:*
„Bäume reisen nachts“ von Aude Le Corff ist ein besonderer Roman, der mich tief berührt hat. Zwischen den Buchdeckeln wartet eine außergewöhnliche Geschichte über eine noch viel außergewöhnlichere Freundschaft auf den Leser, die zum Nachdenken bewegt. Manon und Anatole sind zwei Figuren, die sich genau in dem Moment das erste Mal begegnen, als sie sich gegenseitig am meisten brauchen. Ohne zu wissen, was sie einmal füreinander bedeuten werden, bringen das Mädchen und der alte Mann sich gegenseitig wieder dazu zu leben. „Bäume reisen nachts“ ist ein Roman mit so vielen Werten, aus denen man selbst lernen kann, und so lässt man die Figuren nach der letzten Seite zwar ziehen, aber doch nicht aus dem eigenen Leben verschwinden. Leider entwickelte sich die Geschichte mit der Reise der vier Charaktere in eine Richtung, die nicht ganz mit dem emotionalen Anfang mithalten konnte. Weniger lesenswert wird der Roman deshalb allerdings keinesfalls. Für „Bäume reisen nachts“ vergebe ich 4 Lurche.