Rezension

Festgefahren

Agathe
von Anne Cathrine Bomann

Bewertet mit 3.5 Sternen

Täglich dem Leiden und den Sorgen fremder Menschen zu lauschen, scheint nach über 30 Jahren auch den Stärksten zu zermürben. Dabei ist es eigentlich die Aufgabe des Ich-Erzählers, seinen Patienten zu helfen, denn immerhin ist er kein Priester, sondern ein Psychiater. Doch kurz vor der selbstgewählten Pensionierung scheint ihm der Sinn im Leben gänzlich abhanden gekommen und die Angst greift um ihn. Die Angst, dass das Leben auch nach dem Arbeitsalltag immer noch nicht für ihn beginnt. Sein Leben ist die reinste Routine. Es herrscht keine Spontanität und seine sozialen Kontakte beziehen sich ausschließlich auf einen eingespielten täglichen Ablauf mit seiner Sprechstundenhilfe im Praxisalltag, dem Mittagessen in dem immer gleichen Restaurant und gelegentlichen Interaktionen zum Zwecke des Nahrungsmittelerwerbs. Dann tritt Agathe in sein Leben und überredet die resolute Sprechstundenhilfe noch als Patientin aufgenommen zu werden. Der Ich-Erzähler fühlt sich seltsam zu ihr hingezogen. Ihr Parfum versetzt ihn zurück in seine Kindheit und plötzlich beginnt die Routine aufzubrechen – furchteinflößend, beängstigend, körperlich und geistig schmerzvoll.

Es ist ein interessantes kleines Literaturstück. Gerade 150 Seiten. Fein gewebt, poetisch verdichtet und dennoch ganz leicht geschrieben. Ohne unnötige Worte versteht oder besser spürt man als Leser den Gedanken und Ängsten des Ich-Erzählers nach, findet sich in ihnen wieder, gerät ins Grübeln über die eigenen Routinen und Rituale des Alltags.

Ein kleiner Wermutstropfen schleicht sich hingegen ein, als der namentlich unbekannte Erzähler in eine Zeit verortet wird. Plötzlich spuken mir Passagen verschiedenster Geschichtslektionen im Kopf herum. Die Poesie verschwindet hinter der Historie, wird überlagert von meinem angelesenen Wissen und lässt Fragen über Fragen entstehen, die eigentlich nichts mit der Handlung zu tun haben, aber auftauchen, weil die genannte Jahreszahl nicht zum Gelesenen passen will. Vielleicht stören sich andere Leser gar nicht daran, mich hat es doch ganz schön aus dem Lesefluss geworfen und ich fand nur sehr schwer wieder hinein.