Rezension

Zeit für Veränderung

Agathe
von Anne Cathrine Bomann

Bewertet mit 3 Sternen

Paris 1948: Der Ich Erzähler ist Psychiater, wir erfahren seinen Namen nicht. Er steht kurz vor dem Ruhestand, zählt die Tage, die Anzahl der Sitzungen, die er bis dahin noch absolvieren muss. Es wirkt auf mich so wie in den Witzbildchen über Gefängnisinsassen, die Striche in die Wand für die Tahe ihrer Haft ritzen. Er hadert  mit dem Altern "wie die Kluft zwischen Selbst und Körper immer größer wird". Er lebt alleine, hat keine Familie keine Kinder, außer den Patienten und der Sprechstundenhilfe keine Kontakte. Die Stille, vor der es kein Entrinnen gibt, lässt in wie in einem "verräterischen Gefängnis" festsitzen, auf den Tod wartend.

"Waren nicht Angst und Einsamkeit die einzigen Konstanten, derer ich mir sicher sein konnte?“

Tür an Tür wohnt er mit einem Nachbarn, den er nicht beschreiben könnte. Ein Fremder, um den er sich sorgt, wenn er einmal für einige Zeit keine Geräusche aus der Nebenwohnung hört. Wie mag es wohl dem Nachbarn umgekehrt mit dem Doktor ergehen?

Er sträubt sich zunächst, die neue Patientin aufzunehmen. Nicht genug Zeit wäre für eine ordentliche Behandlung. Doch während er bei der lauten unmöglichen Madame Almeida, deren Tiraden er für Jammern auf sehr hohem Niveau hält, verächtliche Karikaturen mit einem glatzköpfigen Vogel Strauß zeichnet, macht er für Agathe eine Vögelchen mit gebrochenem Flügel. Agathes Duft erinnert ihn an seine Kindheit. Irgendetwas scheint seinen Panzer zu durchdringen.

Der Doktor fühlt sich unsichtbar, findet sich nicht im Spiegel, wissen, dass es gar keinen Spiegel in dem Raum gibt. Er bleibt ungesehen, ungehört, im wahrsten Sinne, verwischt seine Konturen, verliert den Halt, die Orientierung. 

Viele Sorgen und Ängste teilt er mit den Patienten. Er gibt Ratschläge, die er selbst befolgen sollte. Zu Agathe fühlt er sich mehr und mehr hingezogen. Er will ihr helfen, sie retten, gleichzeitig beginnt er sie zu begehren, geht ihr nach beobachtet sie. Er weiß, dass er das nicht darf. Wie zynisch, dass er zu dem einzigen Menschen, der ihn aus seiner Isolation holen könnte, keine Beziehung aufbauen darf, die über das Arzt-Patient-Verhältnis hinausgeht. 

Wie erkannt man seine Angst fragt er den todkranken Mann seiner Sekretärin. Indem man mit der größten Sehnsucht beginnt.

Ist es jemals zu spät, um Nähe zuzulassen? Nein mit Sicherheit nicht. Aber der Wandel vom isolierten Einzelgänger, der nicht mal ein Kind ansprechen will, dass sich weh getan hat, zum gutnachbarlichen Kuchenbäcker, das war mir nach dem so melancholischen Text dann zu sehr Wohlfühlbuch. Mich haben auch einzelne Dinge gewundert bzw. gestört: Dass es keine Ressentiments Agathe gegenüber gab, die Deutsche war, so knapp nach dem Krieg. Die Sorgen der Patientinnen hörten sich eher nach saturierten wohlhabenden Upper East Side Ehefrauen der 80er an als der Nachkriegszeit.

Ich fand es fast ein bisschen abgeschmackt, dass Agathe ein Missbrauchsopfer war, das aber in zwei Seiten abgehandelt wurde. Fast so als ob die Autorin hier noch ein bisschen dem fahrenden #meetoo Zug nachwinken wollte. Bitte nicht falsch verstehen, ich will das Leid von Missbrauchsopfern nicht herabwürdigen. Aber ich finde es passt nicht in das Buch.

Das alles hinterließ mir zum Ende doch eher einen schalen Nachgeschmack.