Rezension

Wie lebt man das richtige Leben?

Agathe
von Anne Cathrine Bomann

Bewertet mit 4 Sternen

In Anne Cathrine Bomanns  Roman  "Agathe“ geht  es um einen namenlosen  Psychiater und seine Patientin Agathe Zimmermann, die sich nur mit großer Beharrlichkeit noch einen Termin bei dem Psychiater verschaffen kann, der fünf Monate vor dem Eintritt in den Ruhestand mit 72 Jahren keine neuen Patienten mehr annehmen will. Er zählt die noch anstehenden Patientengespräche – 800 – rückwärts, hat aber keine Vorstellung, was nach Erreichen der „Null“ passieren wird, keinen Plan, wie das „richtige Leben“ aussehen könnte. Er vermutet, dass das Leben außerhalb der Praxis genauso sinnlos ist wie drinnen und empfindet einen solchen Überdruss, dass auch ein plötzlicher Tod ihn nicht schrecken könnte. Dann wäre es wenigstens vorbei. Seine Patienten mit ihren banalen Alltagsproblemen langweilen ihn. Er hört nicht einmal richtig zu. Im Lauf von fünfzig Berufsjahren hat er eine gewisse Routine entwickelt, an den richtigen Stellen „Hm“ oder „Ah“ zu sagen, ohne dass die Patienten sein Desinteresse bemerken. Tatsächlich scheint dieser seltsame Psychiater völlig ungeeignet für seinen Beruf zu sein, denn er ist nicht empathiefähig und  kann mit Leid und Tod nicht umgehen. Er hat keine sozialen Kontakte außerhalb der Praxis, keine Familie, keine Freunde. Einige Schlüsselszenen zeigen, dass er über keinerlei soziale Kompetenz verfügt: er hilft einem verletzten Kind vor seinem Haus nicht und kennt seinen Nachbarn nicht, von dem ihn nur eine Wand trennt, weiß den Namen des Restaurantbesitzers nicht, bei dem er seit Jahren täglich isst und hält eine seltsame Distanz zu seiner Sekretärin, die seit 35 Jahren für ihn arbeitet. Dann tritt Agathe in sein Leben und verändert ihn. Sie erkennt, dass es diesem Mann, der nichts über sich selbst weiß, extrem schlecht geht. Dennoch schafft er, was vor ihm noch niemand gelungen ist: Er dringt zu ihr durch und liefert ihr die aufschlussreiche Deutung eines immer wiederkehrenden Traums.

Bomann erzählt aus der Sicht des Psychiaters eine zunächst sehr traurige Geschichte, zeigt aber tröstliche Auswege. Bomanns Botschaft: Man muss Nähe zulassen, auf die Mitmenschen zugehen. Wer sich andern öffnet, versinkt nicht in Depressionen und selbstgewählter Isolation. Dann wird auch das Leben wieder lebenswert. Ein lesenswertes kleines Buch.