Rezension

Man kann doch darüber sprechen

Die Fliedertochter - Teresa Simon

Die Fliedertochter
von Teresa Simon

Bewertet mit 5 Sternen

Die 30-jährige Paulina ist mit ihren Eltern und ihrem Kindermädchen Toni in Berlin aufgewachsen. Als ihre Mutter Simone mit ihrer Freundin Heike sich auf den Pilgerweg des Franziskus´ nach Italien aufmacht, erhält das Kindermädchen Toni die Nachricht, dass es in Wien etwas von einem Unbekannten geerbt hat, dass es persönlich abholen soll. Die ältere Toni ist aber krank und kann nicht mehr reisen. Also macht sich Paulina für sie auf den Weg und entdeckt Tonis schreckliches Familiengeheimnis...

Das Buch hat verschiedene Erzählstränge. In dem Tagebuch, das Toni geerbt hat, liest Paulina von einer interessanten jungen Schauspielerin namens Luzie, die einst aus Berlin geflüchtet ist, um sich vor Goebbels zu retten, der ihr nachstieg. Luzies halbe Familie ist jüdisch, in Wien aber lebt ihre katholische Tante väterlicherseits, die sie als Tochter aufnimmt. Und so hat Luzie noch eine gute Zeit als Schauspielerin in Wien, bis die Nazis Österreich zur Ostmark machen. Und Luzie alle Schrecken des grausigen Krieges durchstehen muss. Zudem muss sie sich zwischen zwei Männern, Stiefgeschwistern entscheiden.

Paulina freundet sich schnell mit der Familie des Verstorbenen an. Sie entdeckt mit dem Enkel und seinem Kumpel das moderne Wien. Und sie machen sich auf die Spuren der Vergangenheit, auch von Luzie. 

Ich bin sehr überrascht gewesen, dass dieses "Flieder" Buch gar nicht so romantisch und verschönt daherkommt, wie das Cover suggeriert. Nein. Zu einem erleben wir die Gegenwart mit Paulina, ihre Idee von Österreich/ Wien (da gibt es doch diese Band "Wanda" und diese Serie "Vorstadtweiber" ) und zum anderen die Geschichte der NS-Zeit in Österreich mit Luzies Tagebucheinträgen und ihrer Geschichte. Dadurch das Paulina die historischen Orte aufsucht, kommt es einem so vor, als würde man eine Stadtführung auf den Spuren jüdischen Lebens in Wien machen. Man lernt Denkmäler kennen, die einen tief beeindrucken und deren Hintergrund einen zutiefst erschüttern. Die Autorin nimmt kein Blatt vor den Mund. Schamlos berichtet sie von allen Schrecknissen des NS-Regimes und des Krieges, der Angst der jüdischen Bevölkerung, ihrer Flucht, ihrem Verstecken, ihrer Denunziation, ihrer Deportation, auch das Schicksal der deutschen/österreichischen Soldaten lässt sie nicht aus. 

In diesem Buch wird nichts beschönigt. Es ist anders, als die anderen Bücher über das jüdische Schicksal im Zweiten Weltkrieg. Dieser Roman will unterhalten, aber er macht nicht die Wende in die absolute Fiktion, wo am Ende alle gerettet werden. Historisches lässt die Autorin so stehen wie es war. Schockierend! Grausam! Scheußlich! Unmenschlich! Man muss es auf sich wirken lassen. Nur so kann man von den Schrecknissen und Greueln berichten. In Gefühlen kann man sie nicht ausdrücken. Und doch fühlt man mit den sympathischen Figuren mit, bangt um sie, trauert mit ihnen, hofft für sie. Der sehr schöne und beschreibende Schreibstil reißt einen mit und katapultiert einen in jedes Geschehniss hinein. 

Ein sehr beeindruckendes Buch, mit sehr vielen Informationen der Geschichte und sehr vielem Inhalt. Ein wunderbarer Spaziergang durch Wien erwartet einen. Aus dem Erzählstrang mit der DDR-Geschichte hätte die Autorin sogar noch ein weiteres Buch schreiben können.