Rezension

Notizen zum Leben auf der Erde

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
von John Green

"Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" - ein ungewöhnlicher Buchtitel, der mein Interesse weckt. Das Anthropozän: Das jetzige Erdzeitalter, das durch den Menschen geprägt ist. Wir sammeln und jagen, wir säen und ernten, züchten Tiere und Pflanzen und greifen mittlerweile so stark in den Kreislauf der Natur ein, dass die Atmosphäre immer wärmer wird, das Eis an den Polen schmilzt, die Artenvielfalt zerstört wird und wir damit auf Dauer die Grundlage für unsere eigene Existenz gefährden. Ein Sachbuch also, das vielleicht auch deutlich einen mahnenden Zeigefinger hebt?

Jein. Es ist ein Sachbuch, das aber keine umfassende Analyse der Situation und daraus abgeleitete Maßnahmen präsentiert. Greens Buch ist nicht deduktiv, eher induktiv, wobei er die Schlussfolgerungen dem Leser überlässt. Greens Buch umfasst (neben Einleitung, Nachwort etc.) 44 Kapitel mit so unterschiedlichen Titeln und Themen wie "You´ll never walk alone", "Velociraptoren", "Monopoly" oder "Super Mario Kart" - es fällt mir schon sehr schwer, hier einzelne auszuwählen. In diesen einzelnen Kapiteln beleuchtet Green häufig ein Alltagsphänomen, das man normalerweise einfach als gegeben hinnimmt; er stellt es in einen größeren Zusammenhang, erzählt eigene Erlebnisse hiermit und kommt oft zu philosophischen Gedankengängen, die dann mit einer abschließenden Bewertung auf der Fünf-Sterne-Skala enden.

Das ist ein ganz ungewöhnlicher Schreibstil, der gewöhnungsbedürftig ist, mich aber von Anfang an mitgerissen hat. So geht es wohl vielen Lesern, wobei einige auch so gar nichts damit anfangen können. Aspekt Wissen: Green berührt weit auseinanderliegende Gebiete und ist sehr vielseitig, er gibt sehr viele Hintergrundinformationen, die fundiert belegt werden. Gegenargument: Was soll eine beliebige Ansammlung unnützen Wissens über teilweise amerikanische Phänomene bringen? (Gerade die Zusammenhänge, die mir nicht bewusst waren, haben mir neue Blicke auf bekannte Dinge eröffnet; die typisch amerikanischen Einzelheiten haben oft genug auch deutsche Entsprechungen.) Er beschreibt sehr persönliche Erfahrungen, die ihn bewegt und beeinflusst haben. Warum sollen individuelle Anekdoten für andere Menschen interessant sein - ist das nur Angeberei und sich in den Mittelpunkt stellen? - Für mich sind sie sehr interessant und aufschlussreich: Nicht nur, weil Green ein Autor ist, den ich schätze; nicht nur, weil es erhellend ist, über psychische Probleme aus der Sicht eines Betroffenen und nicht nur aus Fachperspektive zu lesen, sondern auch, weil Green als Mensch so sympathisch wirkt: Mit seiner Offenheit macht er sich verletzlich, aber er kommt mir auch sehr nah, ich kann mit ihm mitfühlen und mich in ihn hineinversetzen. Philosophische Gedanken: Green berührt indirekt Themen wie Gerechtigkeit, Werte und den Sinn des Lebens. Was sollen diese subjektiven Gedankenspiele? - Für mich zeigen sie, dass selbst in den banalsten Alltagsdingen tiefere Schichten verborgen sind. Green gibt mir hier viele Anstöße, aus dem Alltagstrott einmal herauszutreten. Last not least: Die Stern-Bewertungen... Hier schreibt Green in der Einleitung selbst, dass man z.B. über ein Buch in 175 Wörtern sehr viel mehr vermitteln kann als mit einer Stern-Bewertung, die sich eher für ein Datensammelsystem oder Computer eignen. Und so geht er selbst sehr augenzwinkernd mit dieser Skala um, wenn er schon am Anfang auf der Copyright-Seite, auf der Titelseite und am Schluss auf der letzten Seite mit der Vorstellung seiner bisherigen Bestseller Bewertungen ausspricht, die man als flüchtiger Leser leicht überlesen kann. Bewertungen sind subjektiv und individuell verschieden, und das dürfen sie auch sein.

Bleibt noch zu erwähnen: Greens Stil ist oft mäandernd, und man muss sich schon auf seine Abschweifungen einlassen und ihnen folgen, um am Ende da zu landen, wo er gelandet ist. Dabei zeigt er viel trockenen Humor, der sehr unterhaltsam ist. Und seine Formulierungen sind häufig wie ein Leckerbissen, den man sich auf der Zunge zergehen lassen kann. Ja, ich habe dieses Buch genossen, es hat mich nicht nur unterhalten, sondern mir auch Denkanstöße gegeben - und auf meine Sterne-Bewertung verzichte ich.