Rezension

Twain goes Tarrantino

James -

James
von Percival Everett

Bewertet mit 4 Sternen

Auf den ersten Blick scheint der neue Roman von Percival Everett eine woke Korrektur von Mark Twains Klassiker „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ zu sein. Im Interview stellte Everett jedoch klar: „Huckleberry Finn hat keine Mängel, die ich korrigieren will; [James] spricht an, was Mark Twain nicht hätte ansprechen können". Twains umstrittene Ikone des amerikanischen Literaturkanons wird erweitert: Die Nebenfigur Jim rückt ins Zentrum und wird zum Erzähler.

Das Buch hält sich zunächst eng an Twains Grunderzählung, in der ein weißer Junge vor seinem gewalttätigen Vater flieht und einen versklavten Schwarzen trifft, der ebenfalls auf der Flucht ist, weil er verkauft werden soll. Wir erleben bekannte Episoden wieder, aber die Umkehrung der Perspektive verändert alles. In Huckleberry Finn erscheint die Flussfahrt, obwohl durchaus gefährlich, wie ein Abenteuer. Für Jim ist dieselbe Reise mit extremen Gefahren verbunden, er muss ständig fürchten, „zu Tode gehängt zu werden oder Schlimmeres".

Jims Plan ist zunächst, in den Norden zu gehen, Geld zu verdienen und Frau und Kinder freizukaufen. Auf der Flucht beginnt er, eine Art Tagebuch zu führen. Es geht um die subversive Macht von Sprache und Bildung – im Roman beherrschen alle Sklaven die Standardsprache, aber James lehrt seine Kinder, die „korrekte falsche Grammatik“ anzuwenden, wenn sie mit Weißen sprechen. Sprache als Schutzraum - aber Jim denkt  mehr als das: „Mit meinem Bleistift schrieb ich mich selbst ins Sein.“ Er will die Macht über sein eigenes Narrativ.

In der Mitte des Romans nimmt Everetts Version eine andere Richtung als das Original. Es wird klar, dass „James“ etwa 20 Jahre später spielt als Huckleberry Finn, nämlich kurz vor dem Bürgerkrieg - den James eher skeptisch sieht: „Was auch immer zu diesem Konflikt geführt hatte, die Befreiung der Sklaven war ein Nebenmotiv und würde ein Nebenergebnis sein.“ Dieses Misstrauen den Weißen gegenüber durchdringt den ganzen Roman.

Eine der abweichenden Szenen sticht besonders heraus. James wird als neuer Tenor von den Virginia Minstrels gekauft, weiße Sänger, die sich die Gesichter schwärzten und „schwarze“ Songs sangen. Das Problem: Schwarze dürfen nicht auf der Bühne auftreten. Mit Jim treibt Everett das absurde Spiel auf die Spitze: Ein Schwarzer, der sich als Weißer ausgibt, der einen Schwarzen spielt. Rasse als künstliches Konstrukt, wie es deutlicher nicht geht.

Ebenso entlarvt Everett den Voyeurismus, der vielen Südstaaten-Epen zugrunde liegt. Schwarze Leidensgeschichten sind beim weißen Publikum beliebt.„Weiße lieben es, sich schuldig zu fühlen.“ Nur bewegt das nichts. Im Interview sagte Everett: „Ich habe Sklaverei-Romane so satt. Was sagt man am Ende eines Sklaverei-Romans? Ich habe meine Meinung geändert?“

Aber auch die Trope des läuternden Leidens der Sklaverei, den durch Leiden erworbenen Adel der Seele, will Everett dekonstruieren. Everetts James ist nicht der Jim des Originals, der leidet, ohne Hass auf seine Peiniger zu empfinden. Der Roman macht klar, dass Leiden deformiert und nicht läutert. Er zeigt uns Schwarze, denen die Unterwürfigkeit in Fleisch und Blut übergegangen ist und solche, denen Jim nicht trauen kann, weil sie zu Komplizen ihrer Herren geworden sind.

Der Jim des Romans findet im Lauf der Story zu einer gesunden Wut, die er im Interesse seines Überlebens bislang unterdrücken musste. Wir erleben einen Prozess der inneren Selbstermächtigung. Der Jim des Originals bekommt seine Freiheit am Ende von den Weißen geschenkt. James jedoch, wie er sich nun selbst nennt, ist im Feuer des Leidens keineswegs zum Heiligen geworden (wie eine andere vielkritisierte Romanfigur, Harriet Beecher-Stowes Onkel Tom), sondern hat sich zu Stahl verhärtet. An der Stelle wird der Roman zur Rachephantasie und erinnert entfernt an Django Unchained.

So ernsthaft die Themen, so leicht lässt der Roman sich lesen. Kurze Kapitel erzeugen Tempo und der Text ist immer wieder so witzig, wie man es von einem Autor erwarten kann, der sich selbst als „krankhaft ironisch“ bezeichnet.

Sehr gestört hat mich zunächst James vorgebliche Gelehrtheit. Bei seinen imaginären Diskussionen mit den Denkern der Aufklärung spricht Everett aus James´ Mund wie ein Bauchredner durch seine Puppe. Allerdings ist Everett konsequent in seiner Übersteigerung: Gleich einem Superhelden weiß und kann James alles – hier sind wir stilistisch wieder bei Tarrantino. Zum Finale hin gibt das, um mit unserem Kanzler zu sprechen, ordentlich Wumms.

Fazit: Der Perspektivwechsel in dieser altbekannten Geschichte erlaubt Einblicke, die Twain bei aller Liberalität nicht geben konnte – nicht weil er Rassist war, sondern weil er nicht schwarz war. Das Abenteuer wird zur Sozialstudie – Parallelen zur Gegenwart dürfen gezogen werden.