Rezension

Und er läuft und läuft und läuft...

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
von Rachel Joyce

Bewertet mit 5 Sternen

Rachel Joyce spielt die Geschichte von Harold Fry in sehr leisen und sanften Tönen. Es gelingt ihr, sich auf unaufdringliche und fast schon unbemerkte Weise einen Platz in unserem Herzen zu ergattern.

Je unspektakulärer und unaufdringlicher die Geschichte uns in erster Linie erscheint umso deutlicher wird die Kraft und Bedeutung der Worte im Nachhinein. Sie lehren uns, schenken uns neue Denkansätze und lassen uns über Vergangenes nachdenken.
Harolds Geschichte ist eine Geschichte wie sie das Leben schreibt. Sie ist authentisch und transparent. Sie ist voller Höhen und Tiefen. Weder aufdringlich noch spektakulär. Sie ist vielmehr etwas Besonderes: eine Geschichte, die von liebevollen Begegnungen wie auch von Wut, Hass und Trauer geprägt ist.

Seine schmerzhafte Vergangenheit lässt Harold unauffällig werden. Auch seine Frau Maureen, die er innig liebt, ist ihm über die Jahre fremd geworden. Schritt für Schritt haben sie sich voneinander entfernt, sind vielmehr zu zwei Fremden geworden, die aneinander vorbeireden als miteinander. Der gemeinsame Sohn David kann den Gedanken nicht mehr ertragen von seiner Familie nicht verstanden zu werden und flieht recht früh aus dem Elternhaus, gerät auf die falsche Bahn und orientiert sich an den falschen Dingen. Unbemerkt entgleitet Harold sein Leben. Plötzlich geht alles nur noch seinen Gang. Keine großen Emotionen, keine Aufregung, nur Routine.
Als Harold ein Abschiedsbrief von Queenie Hennessy erreicht, erwacht Harold wie aus einer Trance. Sie hat Krebs und wird wohl bald sterben. Es bedeutet ihm viel, ihr zu antworten. Auf dem Weg zum Briefkasten kommt er zu dem Entschluss, dass keine Zeile der Welt das auszudrücken vermag, was er ihr sagen möchte. Von einer spontanen Idee angetrieben läuft er am Briefkasten vorbei, lässt Bäume und Häuser hinter sich und läuft einfach weiter. 1000 Kilometer bis Berwick upon Tweed. Er will zu Queenie laufen. Er will sie retten. Er will für sie laufen damit sie weiterleben kann.

“Wenn wir nicht ab und zu was Verrücktes tun, können wir uns gleich begraben lassen.”

Zitat, Seite 45

“Aber vielleicht braucht die Welt ja genau das: ein bisschen weniger Vernunft und ein wenig mehr Glauben.”

Zitat, Seite 236

Auf seiner Reise begegnet Harold den unterschiedlichsten Menschen. Jede dieser Begegnungen gibt ihm einen neuen Denkansatz mit auf den Weg. In Momenten der Einsamkeit erinnert er sich an schmerzvolle wie wunderschöne Momente seiner Vergangenheit, entdeckt ein Auge für die Natur und für die Dinge die scheinbar so offensichtlich sind und trotzdem von keinem bemerkt werden. Er stößt an seine Grenzen und durchlebt ein Meer an Gefühlsregungen.

In der Geschichte geht es nicht nur um Harolds Weg zu Queenie. Es geht auch um Harolds Beziehung zu seiner Frau Maureen und dem gemeinsamen Sohn David. Es geht um unterlassene Dinge und unausgesprochene Worte. Um Berührungen und Gesten der Zuneigung, die aus Angst verborgen blieben. Aus diesem Grund ergattert Harold 5 von 5 schmerzlindernden Wundpflastern für seine gepeinigten Füße.

“Einen Anfang kann es öfter als einmal geben, und immer wieder anders. Man konnte sich auch nur einbilden, neu anzufangen, obwohl man denselben alten Stiefel weitermachte.”

Zitat, Seite 188

“Er ging unter den Sternen und dem sanften Licht des Mondes, wenn er wie eine Wimper am Himmel hing und die Baumstämme wie Knochen schimmerten. Er ging durch Wind und Wetter, ging unter sonnengebleichtem Himmel. Es kam Harold vor, als hätte er sein ganzes Leben darauf gewartet, zu laufen. Er wusste nicht mehr, wie weit er gekommen war, nur, dass er vorankam.”

Zitat, Seite 246

Kommentare

Catherine Buchling kommentierte am 13. Oktober 2013 um 04:13

Eine unheimlich tolle Geschichte, die sehr nachdenklich stimmt. Hat mir sehr gut gefallen!