Rezension

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Absolut Lesenswert

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen - Andreas Izquierdo

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen
von Andreas Izquierdo

Sie wissen erst, wer Sie sind, wenn Sie wissen, was Sie tun, wenn niemand hinschaut

 

Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht wo ich anfangen soll. Nach dem Cover und dem Klappentext bin ich von einer leichten und fröhlichen Geschichte ausgegangen. Dabei entwickelt sich der Roman in eine ganz andere Richtung. Es werden so viele gute Dinge thematisiert und angesprochen, die dringend mehr in unserer Gesellschaft besprochen werden sollten. Ich kann nur eine absolute Leseempfehlung aussprechen.

Die Figur von Fraulein Hedy ist einfach nur einnehmend. Eine starke Frau, die sich ihre Stärke nicht hat nehmen lassen. Vorallem nicht zu einer Zeit, in der von Frauen ein gegeneiliges Verhalten erwartet wird. Hedy ist starrsinnig und intelligent. Sie weiß sich durchzusetzen und das Leben hat sie gelehrt sich zu nehmen was sie will. Ihre Haushälterin und treue Begleiterin Maria ist ein guter Gegenpol zu der vermeintlichen Härte Hedys und setzt lustige und fürsorgliche Akzente. Jan ist einfach nur Jan. Er hat mit den Widrigkeiten des Lebens zu kämpfen und das große Glück in Hedy eine (Groß-)Mutterfigur gefunden zu haben. Ich finde es vorallem schön zu sehen wie sich die Beziehung zwischen Hedy und Jan im Laufe der Geschichte verändert und vertieft. Gerade Jan macht eine unglaubliche Entwicklung durch, die mit sehr vielen Details und Liebe zur Figur dargestellt wird. Wirklich unsympthatisch und mir leider etwas zu rabiat in die Geschichte eingeführt  wurden ist Nick. Dennoch ist er natürlich für die dramatische Wendung in Jans Leben unabdingbar

Über die Handlung möchte ich trotz Spoilerwarnung nicht zu viel verraten. Wirklich wichtig zu wissen ist hierbei, dass es sich nicht nur um eine lustige und heitere Komöie handelt. Nachdem Hedy und Jan sich beginnen näher kennenzulernen, beginnt Hedy nach mehreren Jahrzehnten an Jan ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen, die mich persönlich aus dem Hocker gerissen hat. Dadurch ist in dem Buch die Situation gegeben, dass eine Erzählung in einer Erzählung geschieht. Die Verknüpfungen und Übergänge sind dabei so fließend gestaltet, dass diese Erzählungen zusammen eine unglaublich spannende und tragische Handlung ergeben. 

 

Legasthenie

Ich finde es richtig gut, dass Jan eine nicht diagnostizierte Legasthenie hat. Leider ein Thema über das viele Menschen nicht genug Bescheid wissen. Auch, dass es behandelbar ist und wie es behandelbar ist. Auch die Schritte und die Zeit und die Geduld (die Hedy oft nicht hat) um gegen Legasthenie anzukommen werden sehr detailreich beschrieben. Dafür aufjedefall ein großes Lob.

Mariuhana & Suizid

Auch zu den Themen geplanter Suizid und dem medizinischem Mariuhanagebrauch werden in dem Buch Stellung bezogen. Das sich Angehörige von so kranken Menschen wie Nick strafbar machen müssen, um ihren geliebten Familienmitgliedern etwas Schmerzlinderung zu ermöglichen ist einfach nur schrecklich. Auch, dass es in Deutschland keine Möglichkeit gibt sein eigenes Leid in einem so schwerwiegenden Fall wie Nick legal zu beenden, lässt einen in tiefer Nachdenklichkeit zurück.

3. Reich und die Aufarbeitung

Leider wird auch heute noch in Deutschland die Verbrechen des einzelnen Familienmitglieds im 3. Reich unter den Teppich gekehrt. Es gibt eine kollektiv Schuld aber was jeder einzelne getan hat, soll bitte nicht erwähnt werden. Der langsame Aufbau der Geschichte, lässt einem mit Hedy mitfühlen. All das Leid und die Ungerechtigkeiten, die ihr widerfahren sind, lässt einem ihre Taten gut verstehen.  Ich finde gerade die langsame Erzählweise durch die Einschübe unglaublich gut gelungen. Durch die Vorgeschichte von ihren Eltern über das Familienleben in Pommern und dann die Veränderungen, die das dritte Reich für sie und ihre Familie bringen, hatte ich das Gefühl Hedy auf eine sehr intime und melancholische Art kennenlernen zu können. Die Erzählung in der Erzählung sorgt für einen stetigen Drang das Buch zuende lesen zu wollen, da ich persönlich wissen wollte wie beiden Erzählungen ausgehen.

Abschließend kann gesagt werden, dass das Buch trotz seiner sehr lustigen Passagen und seiner leichten und bildhaften Sprache nichts für schwache Nerven ist. Hedys und Jans Geschichte ging mir unter die Haut. Das Buch hält den Lesern einen Spiegel vor. Es hat mich dazu gebracht tiefgrundig über mein eigenes Leben nachzudenken. Ganz nach dem Motto: „Sie wissen erst, wer Sie sind, wenn Sie wissen, was Sie tun, wenn niemand hinschaut.“