Rezension

Wie ein Papierflieger ein ganzes Leben ändern kann...

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen - Andreas Izquierdo

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen
von Andreas Izquierdo

Bewertet mit 4 Sternen

Fräulein Hedy ist 88 Jahre alt und möchte zum Nacktbadestrand. Dafür sucht sie einen Chauffeur. Nachdem eine etwas unglücklich formulierte Zeitungsannonce nicht den gewünschten Erfolg brachte, entscheidet sie, dass ihr Physiotherapeut Jan sie zum Nacktbadestrand fahren wird. Doch da gibt es ein Problem: Jan hat gar keinen Führerschein. Und zu allem Übel ist er wegen einer unbehandelten Lese-/Rechtschreibschwäche auch noch praktisch Analphabet. Kurzerhand nimmt Fräulein Hedy Jan in ihre Stiftung für begabte Kinder auf und sorgt dafür, dass Jan lesen und schreiben lernt. Als Schreibübung soll er ihre Lebensgeschichte aufschreiben, die sie ihm in vielen Stunden erzählt. Und so nimmt sie Jan mit auf eine Reise in ihre Vergangenheit, die die beiden immer näher aneinander wachsen lässt…

Der Roman wechselt zwischen Erzählungen aus Hedys Vergangenheit, die geprägt ist durch schlimme Erlebnisse in den Kriegsjahren, und der Gegenwart hin und her. Die Rückblenden sind beeindruckend geschildert, mit viel Liebe zu Details und in einer sehr flüssigen Erzählweise, so dass das Buch zu einem echt Pageturner wird.

Die bedrückenden Ereignisse werden abgemildert durch kleine Anekdoten und den für Fräulein Hedy typischen Wortwitz. Die perfekte Mischung zwischen Schwere und Leichtigkeit. Das habe ich beim Lesen als sehr angenehm empfunden, so wurde das Drama der Kriegsjahre erträglicher.

Fräulein Hedy ist für mich die herausstechende Figur des Romans. Sie ist mir direkt ans Herz gewachsen. Ein Charakter mit viel Tiefe und vielen Facetten. Etwas blass hingegen blieb für mich Jan. Seine Figur wurde für mich ein wenig überfrachtet: Da ist zum einen seine Legasthenie, zum anderen die aufkeimende Beziehung zu Alina, hinzu kommt sein Verhältnis zu seinem Bruder Nick, aus dessen Schatten er nie ganz hervortreten konnte und der dann auch noch sein eigenes Schicksal mitbringt. Dazwischen steht dann immer noch Fräulein Hedy, die versucht, Jan auf den richtigen Weg zu bringen und dabei eigentlich selbst genug eigene Baustellen hat.  Insgesamt für mich zu viel auf einmal. Jan kann all diesen Verzweigungen nicht wirklich gerecht werden.

Es werden so viele schwierige Themen aufgegriffen, dass einige Abhandlungen dabei auf der Strecke bleiben. Ich hätte zum Beispiel gerne mehr über Hedy und das Verhältnis zu ihrer Tochter Hannah gelesen. Auch die Auflösung zwischen Jan und seinen Bruder Nick fand ich etwas zu schnell. Sehr gut gefallen hat mir aber die Beziehung zwischen Jan und Hedy und die Art wie beide trotz des Altersunterschiedes voneinander lernen und profitieren konnten und zurück ins Leben finden.

Die Bedeutung des Papierfliegers und die damit hergestellte Verbindung zwischen Jan und Hedys einziger großer Liebe fand ich wunderschön. Diese kleinen Details, Verbindungen und Anekdoten haben etwas Einzigartiges und Kluges. Sie machen den besonderen Reiz des Romans aus.

„Sie wissen erst, wer Sie sind, wenn Sie wissen, was Sie tun, wenn niemand hinschaut“ – für mich der entscheidende und zentrale Satz des Romans. Trotz kleinerer Schwächen hat mir das Buch sehr gut gefallen. Ich empfehle es gerne weiter und werde sicher auch noch mal in ein anderes Buch des Autors schauen.