Rezension

Die WG als Spiegel der 20er Jahre in Berlin

Winterfeldtstraße, 2. Stock - Johanna Friedrich

Winterfeldtstraße, 2. Stock
von Johanna Friedrich

In ihrer eigentlich viel zu großen Wohnung in der Winterfeldtstraße in Berlin sitzt die verzweifelte Charlotte Berglas und weiß nicht mehr weiter. Ihr Mann Albert wurde tot aus dem Landwehrkanal gezogen. An den von der Polizei vermuteten Selbstmord kann sie nicht glauben, denn Albert hätte sie nie alleine mit dem ungeborenen Kind zurück gelassen… oder doch?! Viel Zeit zum Grübeln und trauern bleibt Charlotte allerdings nicht, denn das Geld rinnt ihr durch die steigende Inflation immer weiter durch die Finger und eine schwangere, ledige Frau will niemand einstellen. Ihr Bruder Gustav und sein Kumpel Heinrich, nur „der Lange“ genannt, schlagen ihr daher vor, Untermieter für einige ihrer Zimmer zu suchen. Zunächst ist Charlotte nicht begeistert davon ihre Wohnung mit Fremden zu teilen, aber letztlich bleibt ihr keine andere Wahl. Neben ihrem Taugenichts von Bruder und dem schüchterne Langen gehören bald auch die lesbische Bardame Claire und der undurchschaubare Theo von Baumberg zu dieser bunten Wohngemeinschaft, die für Charlotte und ihre Tochter Alice nach und nach zu einer Ersatzfamilie werden.
Vor der Kulisse Berlins in den 20er Jahren repräsentiert jede der Figuren ein Stück der damaligen Ereignisse. Gustav träumt vom großen Geld, welches er aber lieber durch Gaunereien und Pferdewetten statt mit körperlicher Arbeit verdienen will. Der unsichere Lange erhält durch seine Freunde im Sportclub zwar neues Selbstbewusstsein, gerät dabei aber allmählich in rechte Kreise und die Fänge der NSDAP. Theo dagegen steht auf der anderen Seite und engagiert sich bei der KPD für eine besser, gerechte Zukunft. Versammlungen, Reden und Flugblätter gehören zu seinem Alltag. Über seine Herkunft hüllt er allerdings den Mantel des Schweigens und lässt Charlotte nur langsam an sich heran. Der Paradiesvogel Claire ermuntert Charlotte schließlich mit ihrer offenen und mitreißenden Art zu mehr Selbstsicherheit hinsichtlich ihrer Fähigkeiten als Fotografin und den Schritt in die Selbstständigkeit.
So hat jeder seine Hoffnungen und Träume und versucht sie mit den Stimmungen, politischen Strömungen und dem realen Leben in Einklang zu bringen. Ich habe es genossen die einzelnen Personen auf ihrem Weg zu begleiten und konnte noch einiges über die verschiedenen Facetten der Goldenen Zwanziger lernen. Ein schönes Buch!