Rezension

Eine Reise nach Berlin - und in die Vergangenheit

Winterfeldtstraße, 2. Stock - Johanna Friedrich

Winterfeldtstraße, 2. Stock
von Johanna Friedrich

Berlin ist immer eine Reise wert, erst recht eine Zeitreise, erst recht eine Reise in die 20er Jahre dieser Stadt, erst recht zu so spannenden Menschen, wie sie uns in diesem Buch begegnen.

Charlotte Berglas hat ihren Mann Albert verloren, man hat seine Leiche aus dem Landwehrkanal gefischt. Die Polizei will einen Selbstmord sehen, Charlotte glaubt weder diese Variante noch daran, dass Alberts Tod ein Unfall war. Charlotte ist zu diesem Zeitpunkt im fünften Monat schwanger und weiß nicht, wir ihr Leben weitergehen soll.
Sie versinkt zunächst in Trauer und hält sich mit dem Verkauf persönlicher kleiner Besitztümer wie Möbel etc. über Wasser. Das wird aber auf Dauer nicht reichen und so entschließt sie sich, einige Zimmer ihrer großen Wohnung zu vermieten. Ohne dass sie es selbst merkt, beginnt damit ihr zweites und neues Leben, in dem sie am Ende nicht nur beruflichen Erfolg, sondern möglicherweise auch ein neues privates Glück finden wird.
Bis dahin allerdings ist es ein weiter Weg, der von Charlottes sehr verschiedenen Untermietern immer wieder in unterschiedliche Richtungen beeinflusst wird.

Da sind zum einen ihr Bruder Gustav, ein liebenswerter Tunichtgut, der ihr oft genug die Miete schuldig bleibt und dessen Freund Heinrich, genannt der Lange, der sich Verlauf der Jahre immer weiter dem Gedankengut der NSDAP und auch der Partei selbst annähert. Vom ersten Tage an ist der Lange in Charlotte verliebt, wagt es allerdings nie, sich zu erklären. Da ist zum zweiten Theoder von Baumburg, anscheinend mit einem bescheidenen Vermögen ausgestattet und auf der politischen Gegenseite stehend. Seine geistige Heimat ist die DKP, als deren Handeln allerdings immer mehr von Moskau beeinflusst wird, ist seine Enttäuschung groß und seine Versuche, dies zu ändern, scheitern zumeist. Und da ist noch Claire, eine alternde und sehr liebenswerte Barfrau in einem Etablissement, das wir aus heutiger Sicht als ein Lesben-Lokal bezeichnen würden. Auch Claire ist eher den Frauen zugetan, wird aber für Charlotte eine mütterliche und herzensgute Freundin. In ihrer Person erleben wir das kulturelle Leben Berlins in dieser Zeit und begegnen Namen, die uns auch heute noch geläufig sind. Und natürlich gehört Alice dazu, Charlottes Tochter, die von allen Bewohnern geliebt wird.
Hautnah erleben wir in den Personen dieser etwas ungewöhnlichen „Großfamilie“ die Höhen und Tiefen dieser Zeit und der Menschen, die sich mit den schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen ebenso auseinandersetzen mussten wie mit dem Erstarken der NSDAP und deren Gedankengut wie auch den mühsamen Kampf von Frauen, wenn sie eigenständig  ohne Ehemann eine berufliche Zukunft anstrebten.

Ein sehr lesenswerter Roman, der neben einer spannenden und gut erzählten Geschichte auch ein sehr lebendiges Wissen dieser Epoche der deutschen Geschichte vermittelt. Wie würde ich mich verhalten, welchen politischen Äußerungen hätte ich Glauben geschenkt, wie weit wäre mein persönlicher Mut gegangen, das sind Fragen, die mich während des Lesens immer wieder beschäftigt haben,  trotzdem ich ein kurzweiliges Lesevergnügen erlebte. Unbedingt zu empfehlen