Rezension

"Nicht ohne meinen Vater"

Nussschale - Ian McEwan

Nussschale
von Ian McEwan

Bewertet mit 4 Sternen

Eine klassische Konstellation: der Vater, die Mutter und der Liebhaber. Und das Kind, vor dessen Augen sich das Drama entfaltet. Aber so, wie Ian McEwan sie erzählt, hat man diese elementare Geschichte noch nie gehört. Verblüffend, verstörend, fesselnd, philosophisch – eine literarische Tour de force von einem der größten Erzähler englischer Sprache. Trudy betrügt ihren Ehemann. Sie wohnt nach wie vor in seinem Haus – einem heruntergekommenen Einfamilienhaus in London, das ein Vermögen wert ist –, aber ohne ihren Gatten, den Dichter und Verleger John. Stattdessen geht dort sein Bruder ein und aus, der zutiefst banale Bauunternehmer Claude. Trudy und Claude haben einen Plan. Doch ihre Intrige hat einen Zeugen: das wissbegierige, knapp neun Monate alte, ungeborene Kind in Trudys Bauch. Von List und Leidenschaft, Verrat und Mord – ein atemberaubendes Drama, erzählt aus einer der ungewöhnlichsten Perspektiven der zeitgenössischen Literatur.

Ein Paar namens Gertrude und Claudius – kennt man das nicht? McEwan bedient sich bei Shakespeare, variiert dessen „Hamlet“ und verlegt ihn ins heutige London.

Entgegen aller Unkenrufe, dass die Möglichkeiten der Literatur ausgeschöpft wären, weil ja alles schon einmal da war, schafft McEwan eine in dieser Form noch nie dagewesene Erzählperspektive: Er erzählt aus der Sicht eines Fötus im letzten Schwangerschaftsmonat. Es ist ein Junge, und er ist schon vor der Geburt mit allen Wassern gewaschen.

Im Augenblick beengt, weil ihm die mütterliche Gebärmutter allmählich zu klein wird, gilt sein Interesse allem, was draußen passiert: Welche Pläne und Ränke seine Mutter und ihr Liebhaber schmieden. Wie sein leiblicher Vater abserviert wird. In welche Umgebung er hineingeboren wird.

Doch sein Blick geht weiter, er kommentiert das politische Geschehen – weil seine Mutter Radio und Podcasts hört und fernsieht, ist er über die wichtigsten Ereignisse bestens informiert – hängt philosophischen und banalen Gedanken nach und gibt zwischen klugen Sprüchen Binsenwahrheiten zum besten. (In den Bemerkungen zum Weltgeschehen ist unschwer die Stimme des Autors selbst zu hören.)

Trudy und Claude sind unsympathische Zeitgenossen, der leibliche Vater John ein bemitleidenswerter Spinner – mehr geben die Charakterisierungen nicht her.

In seinen Gefühlen zur Mutter schwankt der Erzähler, gleicht darin einem pubertären Jugendlichen; ihren Liebhaber, dem er viel zu oft in Gestalt von dessen Penis begegnet, verabscheut er; seinem leiblichen Vater ist er zunächst zugetan, bis er feststellt: Keiner dieser drei freut sich wirklich auf ihn oder bereitet sich auf sein Kommen vor.

Einen Protagonisten wie diesen zu erschaffen und durch ihn einen Roman tragen zu lassen, ist ein waghalsiges Unterfangen, das schnell schief gehen kann. McEwans Konzept geht auf, weil er dicker als dick aufträgt, den Ungeborenen bis zum Weinkenner treibt, der Rebsorten unterscheiden kann (die Mutter trinkt ohne Rücksicht auf ihre Schwangerschaft), und als Literaturexperten auftreten lässt. Man liest mit Vergnügen, und die Fragen nach Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Redlichkeit kann man getrost auf der Strecke lassen.

Der Gefahr, dass sein Roman zur Posse abgleitet, entgeht McEwan, indem er sachte die tragischen Momente des Protagonisten einflicht, die Furcht vor der Zukunft, die Gleichgültigkeit seiner Familie, sowie deren Missgunst, Rohheit und Vertuschung.

Wieder hat McEwan den Beweis erbracht, dass er nicht umsonst zu den interessantesten Schriftstellern unserer Zeit gehört.