Rezension

Soweit die Füße tragen

Solito -

Solito
von Javier Zamora

Bewertet mit 4 Sternen

Mit „Solito“ präsentiert Javier Zamora die unglaubliche Geschichte eines neunjährigen Jungen, der im Jahr 1999 von El Salvador einmal quer durch Mittelamerika zu seinen Eltern in die USA aufbricht und dabei die Grenze zwischen Mexiko und den USA illegal überqueren soll. Zamora erzählt hier seine eigene Fluchtgeschichte – dramatisch, packend, berührend und erschütternd zu gleich und lenkt den Blick auf das Schicksal der illegalen Einwanderer in den USA in eine neue Perspektive. Vor dem Hintergrund einer möglichen Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsidenten und seiner Idee einer radikalen Grenzschließung ein krasses Zeitdokument, das ich nicht so ohne weiteres beiseitelegen kann.

Zamora ist beim Erzählen ganz dicht an seinem neunjährigen Ich. Dessen naiver, unhinterfragter Blick auf die Ereignisse im Frühjahr 1999 ist bestimmend für die Geschichte. Javiers einziger Gedanke ist es endlich mit seinen Eltern zusammen sein zu können. Darauf hat ihn die ganze Familie seit der erfolgreichen Flucht seiner Mutter getrimmt. Sie hat es in zwei Wochen zu ihrem Mann in die USA geschafft. Javier hat sie bei ihren Eltern zurückgelassen. Er war zu klein für die beschwerliche Reise. So lebt er zwischen der Erinnerung an die Zeit mit seiner Mutter und der Sehnsucht wieder mit ihr zusammen zu sein und ein besseres Leben zu leben, auch wenn dies fern von seinen Großeltern und Tanten sein wird, fern von dem, was er als Zuhause kennt. Der Großvater begleitet ihn noch ein Stück, doch dann ist Javier auf die Gnade fremder Menschen angewiesen. Allein die Reise zur amerikanischen Grenze ist beschwerlich und durchsetzt von vielen Tagen, gar Wochen des Nichtstuns und Wartens. Instinktiv weiß Javier, dass er sich so fügsam und selbständig wie möglich verhalten muss, um nicht zurück gelassen zu werden. Dennoch ist er nur ein neunjähriger Junge, der seine Familie schrecklich vermisst und manchmal einfach nur in den Arm genommen werden will.

Für mich Wohlstandsdeutsche ist es schwer zu greifen, warum so viele Menschen ihre Heimat verlassen, um in einem fremden Land, in dem sie nicht willkommen sind, wieder ganz bei Null anfangen zu müssen. Und vor allem erst den Weg dorthin überwinden müssen. Aus meiner Perspektive wirkt es manchmal etwas blauäugig, so wie die Sicht des kleinen ostdeutschen Mädchens auf Westdeutschland: Dort drüben schien alles bunter, greller und besser. Während es mir im Osten aber nicht wirklich schlecht ging und mir der Fall der Mauer schließlich die Aussicht auf unbegrenzte Möglichkeiten brachte, so schwingen in Javiers Kindheitserzählung die Schattenseiten seiner Heimat mit. Er und ich verstehen sie nicht ganz, doch ich habe eine Ahnung, dass Frieden, Sicherheit und Wohlstand keine Selbstverständlichkeit in El Salvador bedeuteten. Einen neunjährigen Jungen also allein über die Grenze zu schicken, muss für eine große Hoffnungslosigkeit innerhalb der Familie stehen. Eine Ausweglosigkeit, die mich wie zwei feste Backpfeifen mitten ins Gesicht trifft und ein ganz mulmiges Gefühl im Bauch hinterlässt. Und so fiebere ich mit Javier mit und drücke ihm ganz fest beide Daumen, obwohl ich längst weiß, dass am Ende die Reise glücklich ausgehen wird. Es ist eine beeindruckende Erzählung und ein Armutszeugnis für uns reiche, kapitalistische Demokratien, die immer Angst davor haben, dass uns der ganze Wohlstand und Reichtum weggenommen wird von den Menschen, die ins Land kommen, um auch ein bisschen Glück zu finden. Sicherheit hingegen wird auch für Javiers Familie ein trügerisches Gefühl bleiben, denn als illegale Einwanderer droht ihnen jederzeit die Abschiebung zurück in die alte Heimat. Ich würde mich freuen, erneut von Javier lesen zu dürfen, um zu erfahren, wie es ihm ergangen ist, nachdem er mit seinen Eltern in einem völlig fremden Land endlich wieder zusammengefunden hat.