Rezension

Der "Notgroschen"

Das Nest - Cynthia D'Aprix Sweeney

Das Nest
von Cynthia D'Aprix Sweeney

Bewertet mit 5 Sternen

Die vier Plumb-Geschwister Leo, Jack, Bea und Melody haben eines gemeinsam: Sie leben zwar alle weit über ihre Verhältnisse, aber immer noch unter ihrem Niveau.
Wie gut, dass es im Hintergrund einen Treuhand-Fonds (liebevoll "Das Nest" genannt) gibt, denn der verstorbene Vater der vier eingerichtet hat und der an Melodys 40. Geburtstag zu gleichen Teilen an die Geschwister ausgezahlt werden soll. Leider macht Leo, der Erstgeborene, seinen Geschwistern einen Strich durch die Rechnung: er reitet sich in einen riesigen Schlamassel, der den Ruf der Plumbs gefährdet, was Mutter Francie dazu veranlasst, den Löwenanteil des Nests zur Ehrenrettung der Familie einzusetzen. Diese Entscheidung stellt vor allem Jack und Melody vor große Probleme...

Cynthia D'Aprix Sweeney hat mich mit ihrem Debütroman begeistert, sie hat einen vielschichtigen Plot gebastelt, in dem die lebensnahe Zeichnung der vier Geschwister überzeugt. Ihr ist ein authentischer Familienroman gelungen, in dem der Leser zwischen den völlig unterschiedlichen Sichtweisen der Protagonisten ständig hin- und hergerissen ist. Ein richtiger Sympathieträger ist eigentlich nicht dabei: Leo, Jack, Bea und Melody haben einige negative Charaktereigenschaften, die in ihrer angespannten finanziellen Situation überdeutlich hervortreten. Dennoch kann man sich als Leser in ihre Lage versetzen und hinterfragt sich auch selbst, ob man in ihrer Situation tatsächlich anders reagieren würde.

Daneben gibt es auch noch einige Randfiguren, die vor allem dazu dienen, die Protagonisten von außen zu betrachten, die aber dennoch ihre eigene Hintergrundgeschichte mitbringen. Da gibt es beispielsweise einen pensionierten Feuerwehrmann, der auf den Antiquitätenhändler Jack trifft; eine junge Latina, die für einen Fehler einen hohen Preis bezahlt hat; Leos On-/Off-Beziehung, die ihn bei sich einziehen lässt; oder auch den Herausgeber einen kleinen Literaturzeitschrift, der gleich mit mehreren Plumb-Geschwistern in Kontakt steht.
Diese Figuren haben ihre eigenen Kapitel, in denen sie dem Leser immer wieder neue Erkenntnisse über die Plumbs präsentieren, aber auch ihre eigenen Geschichten erzählen, was dem Roman sehr viel Tiefe und Facettenreichtum verleiht.

Die Autorin überzeugt aber nicht nur durch die gelungene Charakterzeichnung, sondern auch durch den Verlauf der Handlung, der durch die häufigen Perspektivwechsel und unerwarteten Wendungen das Interesse des Lesers durchgehend wachhält. Die komplexen Gefühlslagen werden dabei mal bissig, mal melancholisch, aber immer treffend und nachvollziehbar vor dem Leser ausgebreitet, was dazu führt, dass man jederzeit nah an den Figuren und nah am Geschehen ist.

Ich versuche eigentlich, kein "Cover-Käufer" zu sein (mal mehr, mal weniger erfolgreich), aber bei diesem Buch fand ich die Umschlaggestaltung schon auf den ersten Blick faszinierend - das Cover weckte sofort mein Interesse und ich wollte wissen, welche Art Geschichte sich dahinter verbirgt.
Und nachdem ich diese Geschichte nun kenne, möchte ich dem Klett-Cotta-Verlag mein Kompliment für dieses wunderbare, treffende Cover aussprechen - es passt hervorragend zum Roman und ist sogar schöner und gelungener als das Cover der amerikanischen Originalausgabe.

"Das Nest" war definitiv eines meiner Lese-Highlights im vergangenen Jahr, und ich möchte dieses Buch allen Lesern ans Herz legen, die gerne Geschichten über Familien lesen - aber auch allen, die einfach meisterhaft erzählte Geschichten lesen möchten.
Dieses erstaunliche Debüt macht Cynthia D'Aprix Sweeney zu einer Autorin, die man im Auge behalten sollte.