Rezension

Die nächste Stufe der Evolution

Die Berufene - M. R. Carey

Die Berufene
von M. R. Carey

Bewertet mit 5 Sternen

Melanie ist anders.

Und dieses Mal meint "anders" nicht eben "auserwählt, um die Welt zu retten". Melanie ist zehn Jahre alt und ein Genie, aber sie unterscheidet sich von den Menschen um sie herum. Nicht von den anderen Kindern, mit denen sie in einem Bunker lebt, aber von den Erwachenen unterscheidet sie sich. Melanie muss nur einmal die Woche etwas essen. Sie legt keinen Wert auf lecker Essen, von Schokolade hat sie nur gehört. Was sie braucht - Eiweiß - bekommt sie immer sonntags. Eine Schüssel voller Maden. Das reicht ihr. Trotzdem wird sie ständig an einen Stuhl gefesselt, so stark, dass sie nicht mal den Kopf bewegen kann. Denn wenn Melanie und die anderen Kinder ihrer Gruppe Menschenfleisch riechen, werden sie wild. RICHTIG wild. Wild im Sinne von "alle Schotten machen dicht, ich will jetzt fressen". Genau. Melanie und die anderen Kinder sind "Hungrige" - eine Art Zombie. Aber Zombies mit Bewusstsein, und keiner weiß, wie das funktionieren kann. Deshalb werden sie in einem militärischen Lager untersucht - Jahre nach einer Apokalypse, die nur wenige normale Leute übrig ließ und dafür Horden über Horden von "Hungrigen", die keinerlei Verstand mehr aufbringen außer fürs Fressen. Jenseits des Zaunes, der den Bunker und das Armeegelände umschließt, ist England ziemlich tot, abgesehen von den Hungrigen und den Schrottwühlern - Menschen, die so degeneriert sind, dass sie sich kaum von den Hungrigen unterscheiden.

Und eben jene Schrottwühler greifen eines Tages die Militärbasis an und zwingen drei Menschen und Melanie auf engsten Raum zusammen - wenn sie lebend in eine sichere Zone gelangen wollen, müssen sie irgendwie zusammenhalten.

Ab diesem Moment wird das ohnehin originelle Szenario zu einem intensiven Fünfmann-Kammerspiel, das tief berührt und Fragen nach Menschlichkeit und Vernunft, nach Angst, Liebe, Mut, Aufopferung und Pflichtbewusstsein aufwirft (und keine Panik, nicht einmal kommt es dabei zu dem so beliebten Ami-Hurra-Gehabe, das unter Zombieromanen bis zum Erbrechen zelebriert wird). Dabei entwickeln sich die Protagonisten in einer authentischen Form, und zwar tatsächlich soweit, dass ich zum Schluss fast zu jedem meine Meinung gewechselt hatte. Die fünf Protagonisten:

Melanie: eine Hungrige mit Verstand. Ein kleines Genie. Neugierig, bewusst, liebevoll, blutrünstig, loyal und - wage ich es zu sagen? Ich wage es: liebenswert. Da habt ihr es: der liebenswerteste Zombie, seit es Milkaschokolade gibt.

Miss Justineau: eine von Melanies und der anderen Zombiekinder Lehrerin. Die Einzige, die in den Kindern nicht nur blutrünstige Monster sah, sondern sie wie Menschen behandelte. Manchmal eine extreme Zicke. Manchmal nur eine verängstigte Frau, die nicht mehr ein noch aus wusste.

Dr. Caldwell: Man kann sie hassen. Bestimmt. Immerhin schneidet sie routinemäßig die kleinen Zombiekinder auf. Ganz bestimmt ist sie eine schreckliche Person. Und doch konnte sie mir manches Mal - egal, wie schrecklich diese Frau manchmal war, wie gefährlich, wie kaltblütig -, imponieren. Weil sie ihren Weg in die Hölle unbeirrt ging: gepflastert mit guten Vorsätzen, unmenschlicher als jeder andere, der in dem Buch auftauchte inklusive der Zombies.

Private Gallagher: Ein junger Kerl, kaum den Kinderschuhen entwachsen - obwohl er nie Kind sein durfte. Aufgewachsen in der Zombieapokalypse unter Menschen, die den Namen nicht verdienten. Unbedarft, unsicher, weichherzig.

Sergeant Parks: Der Mann fürs Grobe, glaubt man anfangs. Handelt immer auf Befehl: Platz ausfindig machen, Militärbasis erstellen, sichern, Zombiekinder besorgen. Vernarbt, Veteran vieler Einsätze. Riskiert seinen Arsch für diejenigen unter seinem Kommando. Ihn habe ich gehasst. Widerwillig respektiert. Irgendwann bewundert. Zum Schluss war er mir der Beste von allen. Ja, wirklich.

Kein Buch für Schwarz und Weiß. Nicht jeder, der ein Zombie ist, ist tot. Nicht jeder, der lebt, ist menschlich. Nicht immer ist es eine gute Idee zu überleben. Nicht jedes Mal ist ein Verlust traurig. Und manchmal heult man, wenn ein Badass nach dem Löffel greift. Es wird Leute geben, die werden jammern, weil das Buch in Präsens geschrieben ist. Es wird Leute geben, die werden sich beschweren, weil die Soldaten nicht mindestens so blutrünstig wie die Zombies sind. Und es wird Leute geben, die dieses Buch phantastisch, realistisch und einfach nur empfehlenswert empfinden. Ich gehöre dazu.

Fazit: Ein Zombieroman abseits des Mainstreams. Hasst es oder liebt es. Aber es zu vergessen wird schwer.