Rezension

Die Wahrheit ist wie Hibiskus.

Stella
von Takis Würger

Bewertet mit 5 Sternen

„Beim Lesen lässt sich vortrefflich denken.“ (L. N. Tolstoi)

 

(Nach)Denken während des Lesens. Recherchieren, etwas aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, eine Meinung hören und sich seine eigene bilden. Anspruchsvolle Romane sollen diesen Prozess in uns anregen, besonders wenn sie reale Themen verarbeiten. Dieser Roman hat wirklich das Zeug dazu. Wie schon Takis Würgers Debüt „Der Club“ ist auch „Stella“ vielschichtiger, als es auf den ersten Blick scheint. Dabei ist „Stella“ schon jetzt der Skandal-Roman des Jahres, der die Leserschaft stark polarisiert(e). Ich kann dem Schwarz-Weiß-Denken dieser Debatte nichts abgewinnen, da Würgers Roman meiner Meinung nach so viele Farben und Zwischentöne aufdeckt, die in mir weiterarbeiten und nachhallen, sich zu neuen Farben und Klängen vermischen und mich am Ende mit einem Kloß im Hals zurücklassen. Ist es da nicht in vielerlei Hinsicht ironisch, dass der Protagonist Friedrich ausgerechnet farbenblind ist?

 

„Hast du mal Hibiskus blühen sehen? […] So ist die Wahrheit, Junge, wie Hibiskus. Irgendwann wirst du es sehen. In Ägypten findest du ganze Gärten. Wunderschön da. Ganze Gärten findest du. Und der Hibiskus blüht in tausend verschiedenen Arten.“ (S. 25)

 

Friedrich ist ein junger Schweizer, der absolut privilegiert und wohlbehütet aufwachsen durfte. Er hat alles, was man sich nur wünschen kann, nur leider nicht die Liebe und Aufmerksamkeit seiner Eltern. Der Vater ist ein bedeutender Konzernleiter und beruflich ständig auf Reisen, die Mutter ertränkt ihren Kummer über ihr ausgebliebenes, künstlerisches Talent und ihre Einsamkeit in zu viel Alkohol. Friedrich geht etwas naiv und seit einem Unfall in seiner Kindheit farbenblind durch die Welt, bewundert die Deutschen für ihre Stärke und möchte sich im Jahr 1942 selbst ein Bild des Krieges in Berlin machen. Gerüchten zufolge sollen dort Juden mit Möbelwagen verschleppt werden. In Berlin trifft er auf die schöne, mysteriöse Kristin, die den Begriff der Wahrheit bis zum Zerreißen dehnt und ihm sofort den Kopf verdreht. Doch mit der Zeit verändert sich Friedrichs Blick auf sich, seine Umwelt und die damaligen Geschehnisse…

 

Takis Würger ist ein wirklich großartiger Erzähler. Der märchenhafte Anfang und die schlichte Figurenzeichnung offenbaren sein Talent, mit nur wenigen Worten dicht gewobene Atmosphären zu erschaffen und Charaktere zum Leben zu erwecken. Diese Fähigkeit habe ich schon in „Der Club“ sehr bewundert und ich wurde diesbezüglich nicht enttäuscht. In Würgers Romanen findet das Wesentliche zwischen den Zeilen statt, wenn man den verschiedenen Andeutungen und Bildern Zeit gibt, sich zu entfalten. Der Roman wird stark dafür kritisiert, der realen Person Stella Goldschlags nicht gerecht zu werden und sich stattdessen in einer kitschigen Liebesgeschichte zu flüchten. Dies greift meiner Meinung nach zu kurz. Würger zeigt uns hier eine Stella, die viele Facetten hat, die menschlich ist und Gefühle zeigt.  Wer war Stella Goldschlag? Liebenswerte Frau? Grausame Täterin? Opfer? Monster? Spannend und tiefgehend fand ich auch Friedrichs Figur, der sich vom naiven Schweizer zu einem Mann mit eigener Meinung entwickelt und sich trotz allem in gewisser Weise schuldigt macht.

 

Für mich wirft der Roman viele Fragen auf. Er erzeugt einen Resonanzraum, den ich nun mit Wissen und Information füllen möchte. Erschreckend gelungen fand ich in dieser Hinsicht die Aufzählung der geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1942, die Würger an den Beginn der Kapitel stellt und die Auszüge aus den Feststellungen eines sowjetischen Militärtribunals. Harte, geschichtliche Fakten und Aussagen, die Gänsehaut und Kopfschütteln erzeugten. Dieses Buch polarisiert, ja. Aber es brachte mich zum Recherchieren, zum Nachschlagen, zum Grübeln und dazu, dass ich nun mehr zur „wahren“ Stella Goldschlag erfahren möchte. Das soll Gegenwartsliteratur doch bewirken? Für mich ein sehr berührender, nachdenklicher, unbedingt lesenswerter Roman.

 

„Unsere Zukunft“, sagte Herr Goldschlag.

„Sei still, Gerhard.“

„Sie wollen uns unsere Zukunft wegnehmen.“

„Er weiß es nicht“, sagte Frau Goldschlag.

„Was weiß ich nicht?“

Sie musste es nicht aussprechen. Vielleicht hatte ich es die ganze Zeit gewusst Es war ein Gedanke, den ich mir verboten hatte. (S. 165)